Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN

Steyr, 22. Juni 1945

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Gestern mittag ist es mir endlich gelungen, auf legalem Wege über die Ennsbrücke zu kommen. Ich befinde mich also seit gestern in sicherer Hut bei Onkel und Tante. Ich habe mich nämlich schon vor zirka 14 Tagen bei der Polizei gemeldet, als bekannt wurde, daß Leute im Zuge einer Austauschaktion gegenseitig ausgetauscht werden. Gestern war also der große Tag, und es konnten zirka 50 Leute von der amerikanischen Seite auf die russische. Onkel und Tante empfingen mich sogleich bei der Brücke, und ohne Formalitäten oder polizeiliche Meldung konnte ich gleich weggehen. Von der amerikanischen Seite habe ich meinen Registrierschein mit Fingerabdruck und die Entlassung aus der Deutschen Wehrmacht, bescheinigt von der Militärregierung.

Wallilein, wenn ich nur schon bei Dir sein könnte. Manchmal ist mir, ich könnte es nicht mehr länger aushalten. Dann denke ich mir wieder, was hat das für einen Sinn, wenn ich auf der Fahrt irgendwo geschnappt werde und für längere Zeit woanders hinkomme und keinem von uns beiden gedient ist. Wenn man Glück hat, so kann man vielleicht ohne Kontrolle und ohne Schwierigkeiten fahren. Soll ich mich auf so etwas einlassen oder soll ich noch warten? Meiner Meinung nach wird es bis Ende Juli dauern (Dreiertreffen in Berlin), bis die russischen Truppen von Österreich weggehen werden. Im Radio hört man über diesen Punkt von Amerika und England gar nichts. Hörst Du die Österreich-Sendungen von diesen Ländern? Kannst Du gar nicht dieses blöde Büro an den Nagel hängen und für ein paar Tage nach Steyr kommen? Dir geschieht bestimmt nichts, und die Züge fahren doch ohne Zwischenfall. Wie geht es denn überhaupt mit der Verpflegung, habt ihr noch zu essen, und könnt Ihr überhaupt satt werden?

Es sind übrigens schon 14 Tage vergangen, ohne daß wir eine Nachricht von Euch haben. Schreibst Du nichts, oder ist die Post schuld daran? Seit dieser Woche fahren ja schon in jeder Richtung zwei Züge. Bist Du sehr stark abgemagert? Ich bin so froh, daß ich noch einige schöne Fotos von Dir gemacht habe, wo Du noch gut aussiehst und schön angezogen bist. Den letzten Film habe ich leider noch nicht entwickeln können, es sind dies die Bilder mit dem rosa Morgenkleid. Wenn ich momentan so bei Dir sein könnte wie damals. Es wäre zu schön.

Gibt es schon eine sozialistische Partei und freie Gewerkschaften? Du kennst doch die Leute alle, und hast Du schon irgendeine Funktion? Was macht Robert Uhlir, bist Du mit ihm in Verbindung? Machen die Nazi bei Euch im Büro noch Dienst, oder was ist mit ihnen geschehen? Waren in Wien schon die Registrierungen der P. G., und was macht man überhaupt mit den vielen Nazi in Wien? Hier laufen sie noch alle herum, zum Teil mußten sie nach Mauthausen auf acht Tage zur Arbeit, kommen aber wieder zurück. Die gesetzlichen Bestimmungen für die P. G. hat mir eine Frau aus Hadersdorf-Weidlingau abgeschrieben, und sie sind mir daher bekannt. Tagt in Wien noch immer die Alliierte Kommission, man hat im Radio nichts mehr von ihr gehört.

Daß ich in Znaim noch einmal verwundet wurde (Bombensplitter im Kopf, Rücken und Gesäß), wird Dir Herma ja erzählt haben. Ich fühle mich aber sehr wohl und habe keine Schmerzen mehr. Außerdem habe ich einen fürchterlichen und hartnäckigen Hautausschlag am ganzen Körper, auch er befindet sich am Wege der Besserung. Und ein Übel kommt selten allein, ich bekam auch eine schmerzhafte Beinhautentzündung und befinde mich noch in ärztlicher Behandlung. Seit gestern allerdings nicht mehr, weil der Zahnarzt auf der amerikanischen Seite ist.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen