Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 15. September 1942

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Kommentar

Jetzt wo die langen Herbstabende beginnen, erwacht in mir ein besonderes Bedürfnis, Dich hier im Hause zu haben. Ich ersticke fast daran, daß ich niemanden habe, mit dem ich mich nach Herzenslust aussprechen kann. Ist es nicht merkwürdig, daß sich niemand, weder ein weibliches noch ein männliches Wesen findet, das einigermaßen dieselben Interessen und Ziele hat wie ich? Wie schade, daß es so viele Leute und so wenig Menschen gibt.
Mein Büro und meine Arbeit befriedigen mich derzeit gar nicht. Besonders seit ich weiß, daß ich von einem Kollegen, mit dem ich wohl viel zusammenarbeiten muß, aber mit dem ich im schlechtesten Einvernehmen bin, bespitzeit und beargwöhnt werde. Durch Zufall habe ich entdeckt, daß der Betreffende sich von allen Vorfällen im Zimmer Notizen, ja sogar richtige "Gedächtnisprotokolle" anfertigt, und das empört mich derart, daß ich es gar nicht sagen kann.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen