Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Im Felde, 12. Jänner 1942

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Kommentar

Fast drei Wochen ist es her, daß wir wieder einmal, wie schon so oft, voneinander Abschied nehmen mußten, und ich komme erst heute dazu, Dir ausführlich zu berichten.
Die Bahnfahrt verlief im großen und ganzen gut, nur wenn wir längeren Aufenthalt hatten, wurde uns die Maschine weggenommen und wir froren ganz fürchterlich.
So kam es, als wir den letzten Tag in Orel über 24 Stunden standen, daß ich mich sehr stark erkältete und schrecklichen Durchfall hatte. Der Arzt glaubte schon an Ruhr, aber mit Opiumpulver und Tee wurde alles wieder gut, nur eine Garnitur Wäsche fiel dabei aus. In O. hatten wir übrigens Glück, denn tags zuvor war Fliegerangriff auf den Bahnhof und steckte zirka 100 Waggons in Brand, unsere langsame Fahrt war also von Vorteil. Als wir ankamen, sahen wir nichts als einen Trümmerhaufen von ausgebrannten Benzinfässern und Verpflegungswagen, in welchen die russische Zivilbevölkerung die letzten halbverbrannten Überreste an Lebensmitteln gierig herausklaubte. Du mußt nämlich wissen, daß die gesamte russische Zivilbevölkerung, ganz egal ob Stadt oder Land, von niemandem verpflegt wird oder zu essen bekommt, sie leben nur von den geringen Vorräten an Kartoffeln, Karotten, Sauerkraut und Essiggurken, welche in jeder Hütte zu finden sind. Sind dieselben aus oder von uns aufgebraucht, so sind sie eben dem Hungertod preisgegeben, Du kannst Dir also ungefähr vorstellen, welche Balgerei entstand, wenn ein Soldat ein Stück hartes altes Brot wegwarf.
Gefangene werden wenig gemacht und die wenigen, welche verladen werden, sind in einem derart jämmerlichen Zustand, daß sie kaum eine längere Bahnfahrt überleben. Bis jetzt sahen wir überall ziemlich starke Zerstörungen.
Geschäfte sind nirgends offen und zu kaufen bekommt man überhaupt nichts. O. ist ziemlich zerstört und außer einem Soldatenkino und einem Soldatenbad ist nichts in Betrieb. Von O. legten wir zirka 30 km in zwei Marschtagen zurück. Die Dörfer sind hier zirka 5 - 10 km voneinander entfernt und dazwischen ist nichts. Keine Straße, kein Weg. Schnee, nichts als Schnee. Die Temperatur schwankte zwischen 25 und 35° unter Null und von den 590 Mann kamen nur 560 Mann ans Ziel. 30 Mann fielen bereits mit Erfrierungen 1., 2., und 3. Grades aus. Die nächsten 30 km wurden wir mit LKW zu unserem alten Reg. gefahren, und von dort hatte ich noch zirka 5 km mit einigen Kameraden bis zu meinem Btl. zurückzulegen.
Momentan bin ich also wieder beim Stab und helfe dem provisorischen Hauptfeldwebel, kümmere mich um die Verpflegung und Post. Unser Gefechtstroß ist diesmal zirka 28 km weiter hinten und hier muß jeder zwei bis drei Funktionen übernehmen, damit alles halbwegs klappt, denn es fehlen doch eine Menge Leute, und jeden Tag fallen einige aus. Feldw. Metzger ist bereits an seiner Verwundung gestorben. Strohner von der Pachmanngasse und Worlicek, beide mit mir in Znaim eingerückt und jetzt bei unserer 8. M.G.Kp. gewesen, sind am Vormarsch leider gefallen. Zankl befindet sich bereits in Sachsen in einem Res.Laz. Man sagt, er hätte mit dem Magen zu tun gehabt.
Augenblicklich befinden wir uns zirka 10 km hinter der Hauptkampflinie in Ruhe und werden wahrscheinlich in einigen Tagen wieder eingesetzt werden. Der Russe greift heftig an und die Flieger besuchen uns jeden Tag. Er will doch bis zum Frühjahr in Berlin sein! Wohnen tu ich mit noch 7 Kameraden der Nachrichtenstaffel in einer der hier landesüblichen Lehmhütten (Keuschen) mit Strohdach ohne Fußboden und einem Backofen aus Lehm. Wenn Du sehen würdest, wie wir hier hausen, denn wohnen kann man das nicht nennen, so würdest Du wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Wir sind alle total verlaust und Du würdest schauen, wenn Du uns alle im fahlen Licht einer kleinen Kerze beim Suchen dieser kleinen Tiere sehen würdest. Momentan beißen sie wieder zum Verrücktwerden und es ist unmöglich, ihrer Herr zu werden. Selbst die Offz. und Ärzte sind nicht verschont geblieben.
Was wir hier in Rußland an Kälte, Ungeziefer, Feindeinwirkung und Ent- behrungen ertragen müssen, ist in Worten kaum zu schildern und ich kann mir momentan noch nicht vorstellen, daß es einem Menschen gelingen wird, all diese Opfer deutscher Männer naturgetreu zu Papier zu bringen.
Die Verpflegung ist ganz gut. Das Frühstück, meist Kaffee, wird von uns selbst am Kamin zubereitet, das Mittagessen empfangen wir von der Feldküche und abends gibt es meist von uns zubereitet Kartoffeln mit irgendwelchem Fleisch oder Fischkonserven. Wir hier sowie viele andere Arbeitsgruppen innerhalb des Stabes halten uns einen dienstbaren Geist, in diesem Fall einen Russen. Unserer heißt Cyril und ist ein äußerst braver und fleißiger Kerl.
Er wurde von einem der letzten in Brand gesteckten Dörfer, Weib und Kinder zurücklassend, mitgenommen. Er ist unser aller Diener und fühlt sich, wie er selbst sagt, bei uns sehr wohl. Sein Leben ist gesichert und Abfälle gibt es auch immer.
Momentan habe ich noch sehr viel zu tun und zum Schreiben komme ich nur abends. Es ist jetzt 24 Uhr und ich will diesen Brief noch zu Ende schreiben, damit Du endlich über das Notwendigste informiert bist. In unserer Hütte ist es zum Unterschied von draußen sehr warm und stickig und ich bin froh, wenn ich noch nicht schlafen brauche. Aus unserem Heiligtum, dem kleinen Volksempfänger, ertönt soeben "Gute Nacht, ihr lieben Leute" und ich denke an Dich und an zu Hause. Wie habt Ihr alle Weihnachten verlebt? Wir waren um 20 Uhr am 24. Dezember in Deutsch Eylau in Ostpreußen. Silvester haben wir in Briansk gefeiert.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen