Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 10. November 1942

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Kommentar

Da ich am Abend einen Urania-Kurs hatte, fuhr ich in der Zwischenzeit gar nicht nach Hause, sondern ging langsam zu Fuß durch die Stadt der Urania zu. Ich kam zufällig beim O.K. vorbei. Du würdest Dich wundem, welche Veränderungen dort vorgegangen sind. Ich ging rückwärts zum Buffet, wo immer die warmen Speisen ausgegeben wurden, und kaufte mir eine Suppe und ein Erdäpfelgulyas (da sonst nichts anderes zu haben war). Das Lokal war gesteckt voll von Leuten, aber was für ein Publikum! Vorwiegend waren es die ausländischen Arbeiter, die man dort sah und die bestimmt keinen allzu gepflegten und gut angezogenen Eindruck machen. Frauen sah ich überhaupt keine, und ich kam mir sehr komisch dort vor. Als ich die Suppe bereits in Empfang genommen hatte, verlangte ich natürlich einen Löffel, mußte aber zu meinem Erstaunen vernehmen, daß man den Löffel bei einer separaten Kasse gegen eine Leihgebühr von Rm. 2.- ausborgen muß. Mir ist dabei eingefallen, wie oft wir beide dort beim O.K. gegessen haben und was für gute Sachen es da gab. Nun das ist jetzt alles vorüber.
Heute nacht habe ich besonders schlecht geschlafen, um zirka 3 Uhr weckte mich das Geräusch der Straßenbahn, die gerade in der Nähe unseres Hauses stark abbremste und dann stehenblieb. Erst nach einer langen Weile fuhr sie weiter. Ich weiß nicht, was für geheimnisvolle Fahrten die Straßenbahn mitten in der Nacht, lange nach Betriebsschluß und lange vor Betriebsbeginn, unternimmt, ich höre sie nämlich schon einige Male.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen