Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 10. Mai 1942

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Kommentar

Am Donnerstag hat mich Minnie Schüller dringendst gebeten, sie in ihrer Wohnung bei ihren Eltern zu besuchen. Ich versprach es mit dem Hinweis, nur höchstens eine Stunde lang zu bleiben, da ich zeitlich nach Hause wollte, um Dir zu schreiben, inzwischen hat sich dort so ein Wirbel ergeben, daß ich bis halb acht Uhr dort blieb. Zunächst einmal kam ich hin in die Argentinierstraße und es war niemand zu Hause. Also beschloß ich, beim Haustor zu warten. Nach einer Weile kam Minnie. Wir gingen in die Wohnung hinauf, dann kam ihre Schwester mit dem kleinen Kind. Dann eröffnete sie mir, daß sie um halb sechs Uhr beim Rechtsanwalt bestellt sei. Ich ging also mit ihr dorthin und wartete im Vorzimmer, bis sie drangekommen war. Es handelt sich nämlich darum, daß ihren Eltern die Wohnung gekündigt wurde und man sie deshalb aus Berlin herbeigerufen hat, um alles Notwendige zu veranlassen. Jetzt handelt es sich darum, die jüdische Untermieterin als auch den jüdischen Vater aus der Wohnung herauszubringen, damit ihre Mutter und Schwester und sie selbst auch die Wohnung behalten können.
Daraus ergaben sich furchtbare Auseinandersetzungen in der Familie, der Vater will nicht gern hinaus, die Kinder wollen ihn nicht mit Gewalt zwingen, die Mutter will nicht weiter mit ihm zusammenleben, weil die Ehe schon seit langem sehr schlecht ist. Nachdem Minnie vom Anwalt Informationen bekommen hat, bat sie mich dringend, noch einmal mit ihr zu den Eltern hinaufzugehen und zu helfen, die Eltern als auch die Untermieterin von den notwendigen Maßnahmen zu überzeugen. Ich war also Zeuge von sehr erregten Auseinandersetzungen, die auch mich sehr aufgeregt haben. Dann ging ich mit Minnie fort.
Gestern, Samstag, war nun wieder ein sehr aufregender Tag für mich. Nachdem wir die ganze Woche schon gefürchtet haben, daß unsere neue Arbeitszeit verkündet wird, ist das gestern zwei Minuten vor Büroschluß geschehen. Und zwar beginnt die neue Arbeitszeit bereits ab morgen, Montag, und zwar statt wie bis jetzt von ½ 8 bis 4 Uhr von 7 Uhr bis 5 Uhr.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen