Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 8. März 1942

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Kommentar

Täglich liest und hört man von soviel Vernichtung und Menschenleid, die Anzahl der vernichteten Menschenleben beträgt täglich viele Tausende, darunter auch Frauen und Kinder und das geht nun schon seit Monaten so weiter. Ganze Völker werden vernichtet und ausgerottet, andere in die moderne Sklaverei verschleppt, ich wundere mich nur, daß die Menschen den Mut aufbringen, solche Taten noch zu besingen. Noch niemals hat es in der Geschichte soviel Grausamkeit und Unmenschlichkeit gegeben, und das alles ins Vielfache gesteigert, weil zum erstenmal in der Geschichte die ganze Welt gleichzeitig davon betroffen wird. Der Mensch von heute kann wahrhaftig auf diese größte Errungenschaft der Gegenwart stolz sein, die darin besteht, daß es für niemanden aus diesem Grauen einen Ausweg gibt. Aber die Hauptsache ist, daß wieder eine Unmenge Stoff für Heldenlieder und Heldenepen geschaffen wurde, davon kann man die nächsten paar Jahre bis zum nächsten Krieg leben. Damit in der Zwischenzeit der Wahnsinn in den Gehirnen weiterleben kann, wenn schon die Kriegsmaschine schweigen muß.
Du siehst, in welch bitterer Stimmung ich heute bin. Wenn ich sehe, wie die Menschen alle wie wahnsinnig ins Kino rennen (ich habe heute eine Kostprobe davon genossen), dann kommt mir das direkt amerikanisch vor. Je leerer der Kopf, desto mehr Kinostoff geht hinein.
Spatzili, wenn ich nur wüßte, was Du jetzt gerade tust? Bist Du der Not gehorchend ganz abgestumpft und teilnahmslos oder leidest Du sehr unter den Umständen. Ich sitze hier und kann Dir nicht helfen und muß mich einfach damit abfinden. Der menschliche Geist findet sich aber nicht ab, das hat die Geschichte tausendfach bewiesen, das müßten eben begnadete Menschen und Völker sein, mit wahrhaft klassischer Ruhe begabt. Die deutschen Menschen gehören aber nicht zu den begnadeten Menschen. Die finden sich nicht ab und müßte die ganze Welt in Trümmer aufgehen.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen