Wenn erst Friede ist  © 2005

BRIEFE RUSSLAND I

Wien, 6. Februar 1942

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Kommentar

Gestern habe ich Dir nicht geschrieben, weil ich mir so viele Wege machte. Ich war unter anderem auch bei Otto. Er hatte für vorige Woche seine Einberufung in Händen, wurde jedoch mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand zurückgestellt. Auch Ludwig Sperlich, bei dem ich nachher war, hat einen Bereitstellungsschein erhalten. Lintschi ist sehr unglücklich darüber. Du weißt doch, daß sie ein zweites Kind erwartet.
Wir haben im Büro sehr viel Arbeit und immer heißt es noch Leistungssteigerung, Leistungssteigerung. Bis zu welcher Grenze möchte ich nur wissen? Ob sich das ganze lohnt? Seit Weihnachten haben wir ununterbrochen Frost. Der Schnee ist wunderschön wie selten in einem Winter, leider ist aber das Skifahren verboten und alle mußten ihre Skier bei der Sammlung abgeben. Jetzt sind wegen Kohlemangel viele Theater usw. gesperrt, auch die Urania und das Volksheim, auch viele Geschäftslokale und die Straßenbahn verkehrt jetzt nur bis 11 Uhr nachts.
Gestern und heute, da es nicht mehr gar so kalt war, wollte ich verschiedene Besorgungen in der Stadt und in Mariahilf machen, aber es ist direkt eine Katastrophe, daß man überhaupt nichts mehr zu kaufen bekommt. Dabei sind in den Auslagen die schönsten und verlockendsten Sachen ausgestellt.
Demnächst werden in Wien Raucherkarten eingeführt und zwar schon ab 15. Februar glaube ich. Wein und Bier bekommt man auch nicht mehr. Du fragst mich, was ich zu Weihnachten bekommen habe? Von Deiner Mutter ein Tischtuch, für unseren Zimmertisch, weiß mit einem sehr hübschen Muster und es paßt sehr gut zu den Möbeln. Von meiner Mutter 6 Handtücher und 1 Paar handgestrickte Socken, von Herma eine Garnitur Wäsche und zwei Paar Strümpfe. Deine Mutter bekam von uns die Brotdose und Dein Vater den Baedeker. Alles in allem war es heuer sehr bescheiden. Zu Silvester war ich bei Deinen Eltern. Um ½ 1 Uhr ging ich dann allein nach Hause, es war hellster Mondschein und alles voll Schnee und ich war sehr ernst und traurig. Viel Haß und Empörung war in mir und doch wieder eine große Gleichgültigkeit und Verhärtung. Auch den Neujahrstag beging ich ohne große Erwartungen und ganz allein für mich. Zu Hause bei meinen Büchern fühle ich mich doch am wohlsten.


Ruth Linhart | Zeitgeschichte | Inhalt | Anmerkungen