Ruth Linhart | Texte


Die Ballade von Luise

Luise starb mit 45 Jahren an Unterleibskrebs. Sie überlebte einen Ehemann und zwei Liebhaber. Ihre Mutter überlebte sie um zwei Wochen. Kinder hinterließ Luise vier. Zwei von ihnen fraß der große Krieg. Karl fiel als Flieger, und Toni ist bis heute in Rußland vermißt.

Luise ist eine historische Persönlichkeit, keine Königin, aber eine Frau, der das Ärgste angetan wurde, was einer Frau angetan werden kann. Luise ist geboren worden, hat gelitten und ist gestorben. Aus und auf Nimmerwiedersehen. Nur im Erzählschatz meiner Großmutter hat sie überlebt, in einer Nebenrolle.

"Luise war", sagt meine Großmutter, "ein sehr hübsches Mädchen." Die langen blonden Haare streiften ihre Kniekehlen. Luise war im welschen Teil Alt-Österreichs aufgewachsen. Vater: Bahnbeamter in der Monarchie. Mutter: Büglerin. Vor dem Ersten Weltkrieg kamen sie nach Innsbruck. Damals lernte meine Großmutter Luise kennen. Ihre Schwester gab der in der deutschen Sprache Ungelenken Nachhilfe.

Der Vater, Klotz mit Namen, war, heißt es im Geschichtenrepertoire meiner Großmutter, in seiner Militärzeit "irgendwo da unten, in der Bukowina, und dort steckte er sich bei einer Zigeunerin an". "Und", fügt die Großmutter stets hinzu, "das war lange, nachdem Luise auf die Welt gekommen ist." Klotz starb jung an Lues, in der Nervenheilanstalt im tirolischen Hall. Vorher hat er sich an den Frauen seiner Familie für das gerächt, was ihm die "Zigeunerin" anhängte. Und die Mutter, die Klotzin, die rächte sich wiederum an ihm - und an Luise.

"MIt 25 mußte sich die Mutter den Unterleib operieren lassen, alles heraus, und nachher durfte sie mit ihrem Mann nie mehr Verkehr haben", erzählt die Großmutter. "Die Luise", fährt sie fort, "war also wirklich sehr hübsch. Als der Klotz einmal bei der Bahn für eine Zeit nach Lienz versetzt wurde, mußte Luise mit ihm die Wirtschaft führen. Dort, in Linz, hat der Vater die Luise vergewaltigt." Meine Großmutter fühlt sich, wenn sie davon erzählt, zu einer verlegenen Entschuldigung verpflichtet. "Der war nicht mehr ganz richtig im Kopf zu dem Zeitpunkt. Und hinter den Weibern war er schon immer her." Jetzt war eben die Luise dran, 15 Jahre, langes blondes Haar bis in die Kniekehlen und ohne Mutter zur Seite.

Luise war nämlich nicht das Kind des Klotz. Das wußte wohl er, aber Luise wußte es nicht. Die Mutter hatte ihr das verschwiegen. Auch nachdem es passiert war, ließ sie Luise im Glauben, der eigene Vater hätte sich an ihr vergangen. Und hielt Luise immer und immer wieder vor: "Du hast es mit deinem Vater getrieben!" Blutschande. Meine Großmutter: "Die Mutter konnte die Tochter nicht leiden, weil sie ein lediges Kind war. Auf ihren Mann, der ihr vor lauter Eifersucht keine Ruhe ließ, hatte sie einen Mordshaß. Mit dem war kein Leben mehr. Zum Schluß fürchtete sie sich richtig vor ihm. Er drohte ihr mit dem Umbringen."

Wahr ist, daß die Mutter zum Zeitpunkt der Vergewaltigung schon lange einen Freund hatte. Er hieß Schwertes. Auch sie war, sagt meine Großmutter, eine sehr hübsche Frau. "Hellblondes, wunderbares Haar, schöne Augen. Sie war groß und schlank und sehr tüchtig. Eine hervorragende Büglerin." Im Sommer arbeitete sie in Hotels an der italienischen Riviera als Wäschebeschließerin. Sonst bügelte sie "nur bei guten Familien, in Bozen und in Innsbruck, feine Tüllsachen und ähnliches." Den Schwertes hatte sie in Bozen kennengelernt. Er war 18 Jahre alt, besuchte die Gewerbeschule, und sie war 34. Dieser Schwertes bringt in die ganze Geschichte den muffigen Duft des Kriminals. Er war Kunstmaler und Tischler. "Aber hauptsächlich war er ein Gauner. Immer wieder machte er riesige Diebstähle und Betrügereien. In Hotels bandelte er mit reichen Frauen an und versprach ihnen die Ehe", flüsterte die Großmutter nun beinahe.

In der Wohnung des Klotz wartete auf ihn in unwandelbarer Treue Luises Mutter. "Der bekannte Rudolf Schwertes, der internationale Heiratsschwindler und Gauner, mit seiner Geliebten P.K. geflohen." ("Über die Jöcher nach Südtirol", fügt die Großmutter hinzu.) Dergleichen passierte, scheint es, erst nachdem der Klotz in Hall zugrunde gegangen war. Vorher war es so: Philomena Klotz, die den Schwertes immer deckte, deckte sich mit Luise vor der rasenden Eifersucht des siechen Ehemannes.

Auch die Luise hätte dann einen gefunden, den sie gern gehabt hätte. "Heute ist er Kommerzialrat, damals war er niemand", berichtet die Großmutter. "Gleichzeitig verehrte sie ein gewisser Schlögl aus dem Oberinntal. Die Mutter lag ihr Tag und Nacht in den Ohren: Der Schlögl, der wär was, der hat Geld! Er wollte die Luise auf der Stelle heiraten. Die Mutter wollte sie anbringen. Der andere wäre ihr viel lieber gewesen, aber sie gab der Mutter nach und heiratete den Schlögl. Jetzt wohnte sie oben, am Mieminger Plateau, in einem Haus mit Wald und Kühen, viel wert, gleich nach dem Ersten Weltkrieg."

Der Mann aus der wohlhabenden Familie verkaufte jedoch bald dieses schöne Haus, weil er ein Hotel wollte, doch ehe er den Kaufvertrag unter Dach und Fach hatte, war das Geld in Champagner zerronnen. "Zum Schluß reichte es nur mehr für eine Pacht. 'Bei der Trauben' hieß es. Ein schäbiges Wirtshaus." Dort bekam sie noch drei Kinder, das älteste, Karl, war im Wohlstand geboren.

Vier Kinder also, lange blonde Haare und ein Mann, der auf der Heimfahrt von Innsbruck die für's Gasthaus gekaufte Wurst, den Schnaps, im Rausch großzügig an die Mitfahrenden im Zug verteilte. Auf der anderen Seite im Dorf ein Metzger, viel älter, mit einer noch älteren Frau und großen Kindern, der ihr den Hof macht. Großmutter: "Sie war in Not, und er half ihr halt."

Das Unglück, das Luise bereits mit 15 Jahren eingeholt hatte, schlug von nun an pausenlos zu. Eines Tages spürte ihr Mann wahnsinnige Kopfschmerzen. In der Innsbrucker Klinik stellte man die Diagnose: Knochenkrebs. Er starb langsam. "Sie konnte sich nur über Wasser halten, weil sie den Metzger hatte, den sie nicht liebte." Später, Mann und Metzger waren tot, arbeitete sie als Küchenkassierin im Hotel "Mond" in Innsbruck. Ihre langen blonden Haare wirkten noch immer. Jetzt war der Pächter ihr Geliebter, er hieß Hauer. Die Kinder waren mittlerweile in Pflege und in Schulen versorgt. "Das zahlte die Luise alles von dem Geld, das sie im 'Mond' verdiente."

Damals wohnte sie in Innsbruck in einem kleinen Zimmer. Auch der Hauer konnte ihr bald keine Zärtlichkeit mehr geben und schon gar kein Geld. Zuerst machte er Konkurs, dann beendete Leberkrebs das Verhältnis. Zu seiner Beerdigung kamen Luise und die Frau vom Hauer. "Die war Badefrau im Dampfbad", geht meine Großmutter langsam dem Schluß der traurigen Geschichte zu, fast so traurig wie die alten Küchenlieder. "Aber die zwei haben sich am Grab nicht mehr angefeindet. Er hat sowieso nichts mehr gehabt."

Endstation: Kassierin im Kaufhaus Krumm. "Nach einer Brustoperation war sie drin im Sellraintal auf Erholung. Sie meinte, sie hat Rheumatismus, weil ihr das Kreuz so weh tat. Aber der Doktor hat zu ihrer Tochter gesagt: ,Luisl, die lebt höchstens noch sechs Wochen.' Es wurden sieben." "In den letzten Tagen", sagt die Großmutter, "ist sie zum Glück nicht mehr bei Verstand gewesen. ,Kommst du vom Karl?', hat sie mich gefragt, wenn ich sie besucht habe." Karl, ihr Ältester, war bei den Fliegern. Es war wieder Krieg. Der fraß ihn. Aber das wenigstens mußte sie nicht mehr erleben.

Ruth Linhart, publiziert in die frau, 42/1984, S. 23,24


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