Ruth Linhart | Texte


Übermorgen

"Hast du wieder etwas geschrieben?" fragte er sie. "Nein, in letzter Zeit nicht," antwortete sie. Obwohl ihr im selben Atemzug einfiel, daß sie Neues geschrieben hatte. Das Schreiben war ihr aber im Augenblick nicht wichtig. Es war Abschied. Das zählte mehr. Daß sie ihm einen Text von sich hatte lesen lassen. Einen sehr intimen. Daß er sie vorher einen Text von sich hatte lesen lassen. Versuche, einander näher zu kommen.

"Er ist eben der Mann für meine Fantasie", dachte sie in den letzten Tagen oft. Jetzt saß er neben ihr. In ihr vibrierte es. "Das muß dir nicht unangenehm sein", beruhigte sie sich. "Genieße es doch". Ein junger schöner Mann mit einer bunten Schildmütze. Ein Mann für die Fantasie. Ein lebendes Bild. Kein Gemälde. Kein Foto. Kein Videofilm. Ein lebendiger junger Mann, der sich leicht bewegt. Sie könnte ihn angreifen. Seine Wangen sind rauh vom Zweitagebart. Sein Hals bewegt sich atmend. Seine Haare schimmern wie von Brillantine, was sie stört. Er sitzt da. Gelassen. Er erwartet nichts von ihr und sitzt doch für sie da. Ein wenig Melancholie in den Augen, ein bißchen Innigkeit, viel Ironie. Eine farbige Gestalt. Neben ihr, sie spürt die Nähe seines Oberschenkels intensiv an dem ihrem. Und doch ist seine Gestalt so unrealistisch wie die schönen Gestalten auf den alten Gemälden: Bläue des Himmels im Hintergrund. Süße Wehmut des Abschieds.

Er wendet seinen Kopf leicht in ihre Richtung. Seine Augen sprühen sie an: "Es gefällt dir doch so, wie es ist. Genau so, wie es ist, willst du es." Es ist Nichts. Sie bräuchte sich nur wenige Zentimeter vorneigen. Mit den Fingern seine Bartstoppeln berühren. Und es wäre etwas. Er sitzt da. Wäre da für sie. Wäre erreichbar. Aber es ist ihr unmöglich, nach ihm zu greifen. Ihn zu erreichen.

In der Fantasie hatte er seinen festen Platz, seit zwei, drei Jahren. Am Anfang probte sie viel öfter als jetzt, wirklich nach ihm zu fassen und nahm sich fest vor, es das nächste Mal gewiß zu tun. Mit Worten nur. Aber doch wenigstens mit Worten Kontakt. Es kam nicht dazu, außer zu einigen unbeholfenen Versuchen, die zu nichts führten, keinen Millimeter weiter zu ihm hin.

Worte eignen sich nicht. Sie merkte irgendwann, daß er für sie kein Mensch zum Reden war. Sondern zum Angreifen. Er ließe sich angreifen von ihr. Sie dürfte ihn angreifen. Dessen wurde sie sich immer sicherer. Und er würde zurückgreifen. Es würde schön sein. Sie wußte nach zwei, drei Jahren genau, daß es sehr schön sein würde. Aber sie ließ ihn dort sitzen, im Blauen. Für sie lächeln. Er lächelte ihr zu, ironisch.

Irgendwann hatte er begonnen, so lächelnd in ihrer Fantasie aufzutauchen, wenn sie wegen anderen traurig war. Wie ein guter Freund, der ungerufen tröstet und sich dann zurückzieht, ohne irgendetwas zu verlangen. Er lächelte ihr ironisch und innig zu und ihr Herz wurde leicht. Sie hatte sich immer wieder gewundert, daß eine Vorstellung der Fantasie ihr auf diese Art und Weise helfen konnte. Er hatte davon keine Ahnung.

Jetzt saß er neben ihr. Das letzte Mal. Keine Realität. Eine Möglichkeit. Ein Geheimnis, das sie glücklich machte: "Dieser junge schöne Mann wäre für mich da". Dieser begabte schöne erotische junge Mann. Dieser sensible und stachelige Mensch. Dieser junge Mann, der ihr so weh tun könnte. Weh tun würde. Dessen war sie sich sicher. Der so zärtlich und so barsch sein würde. Der sich liebesuchend über ihre Arme beugen und sie zynisch verspotten würde. Der ihre Haare knistern lassen und sie an ihnen reißen würde. Der sich öffnen und unversehens wieder schließen würde. Der sie an sich nehmen und dann abwerfen würde. Ein junger Mann, der Kinder wollte.

Sie saß neben ihm im Kaffeehaus. Das letzte Mal. Sie hatte ihn nie alleine getroffen. Immer nur gemeinsam mit den anderen der Gruppe. Manchesmal, selten genug, hatten sie ein wenig geflirtet. Er hatte den Fuß auf ihren gelegt. Sie hatte herausfordernd gesagt: "Ich spüre gar nichts. Du hast ja so dicke Schuhe an." Als sie wieder unter den Tisch schaute, lag sein Fuß in einem groben braunen Socken am Semischleder ihres Halbstiefels. Sie erstarrte und mied seinen Blick. Wenig später hatte er den Schuh wieder angezogen. Sie hatte sich nie auch nur zehn Zentimeter in seine Richtung gebeugt. Nie das Atmen seines Halses mit ihrer flachen Hand befühlt. Ihn nie so nahe gespürt wie die Baumrinde, auf die sie manchesmal ihre Wange legte. Kein Risiko.

"Es wäre mir ein zu großes Risiko gewesen", hatte sie heute gesagt. Mittlerweile nicht mehr das Risiko der Ablehnung. Sondern das Risiko, angenommen zu werden. Was fürchtete sie mehr? Die Nähe, die wieder an die tiefliegensten Nerven ihres Herzens rühren würde? Oder die schnelle Zärtlichkeit mit dem Ende nach dem ersten Mal?

Einmal hatte er ihr im Kaffeehaus seinen "Traum" geschildert: Eine Frau am Klo "zu nehmen" - nein, nicht gegen ihren Willen. Aber nur dieses eine unverbindliche Mal, ohne Liebe nachher. Sie hatte über dergleichen gelächelt. Schließlich war sie viel älter und Träume dieser Art schienen ihr ein bißchen pubertär zu sein. Einmal hatte er zu ihr gesagt: "Du bist für mich keine Muttergestalt. Du bist für mich die Frau schlechthin." Das wirkte in ihr wie mehrere Gläser Sekt.

Zwei, drei Jahre. Die Gewißheit, ihn immer wieder zu sehen. Die Möglichkeit, ihn einmal in hautnahe Wirklichkeit umzuwandeln. Zu Ende. Nein, es gibt kein Ende. Sie ließ ihn sich nicht zur Vergangenheit machen. Er saß noch immer da. Lächelte ironisch und innig. Sie könnte nach ihm greifen.

"Es gäbe nur eine Möglichkeitkeit des Kontaktes", hatte er heute gesagt, und war über und über rot geworden. "Ich kann mir eine Menge von Varianten des Kontaktes vorstellen", hatte sie widersprochen. Scheinbar weise. Aber in Wahrheit nur, um ihre Sicherheiten und ihre Fantasien gleichzeitig erhalten zu können. In Wahrheit war er weise. Es gab in der Realität außerhalb der Fantasie mit ihm nur die eine Möglichkeit des Kontaktes. Oder besser: Es gab ohne diese Art des Kontaktes keine Möglichkeit irgendeines Kontaktes mit ihm.

Später, beim Verabschieden an diesem letzten Abend, sagte er:"Also, wenn du dich nicht rührst, melde ich mich bei dir." Sie sagte: "Ja, mach das. Wir sehen uns sicher wieder. Schon übermorgen, beim Fest." "Ja, übermorgen sowieso." Sie hatte aber schon seit langem vor, übermorgen nicht hinzugehen.

Ruth Linhart, ORF Hörfunk Ö1 Texte, 9. Juni 1996


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