Ruth Linhart | Japanologie | Nippons neue Frauen

Nippons neue Frauen - Einleitung

Wirf ein gekochtes Ei in den Sternenhimmel

"Wirf ein gekochtes Ei in den Sternenhimmel!" Dieses Bild, eine Zeile aus einem Gedicht von Towada Yoko, paßt vielleicht in Ihren Augen nicht zu Japanerinnen. Aber es gibt in Japan viele junge Frauen, die sich gegen das Alte auflehnen. Die jungen Frauen beginnen, gekochte Eier in den Himmel zu werfen. Ihre Mütter und Großmütter trauen sich das nicht, aber viele von ihnen sympathisieren wahrscheinlich in ihrem Herzen mit den aufmüpfigen Töchtern und Enkelinnen.

Nur hat es sich bis zu uns nach Europa nicht recht herumgesprochen, daß junge Japanerinnen heutzutage "den Lappen wegwerfen" und "sich einen Weg brechen durch das Gelächter, das um sie aufkocht...", wie es in dem Gedicht von Towada Yoko ebenfalls heißt.

Der Titel unseres Buches Nippons neue Frauen deutet nicht nur an, daß Japanerinnen sich ändern - wobei sie wahrscheinlich gar nie so waren, wie man sie bei uns sah. Neue Frauen beinhaltet aber auch, daß wir uns mit unseren westlichen Vorstellungen über die "Japanerin" auseinandersetzen wollen. Es ist an der Zeit, die europäischen Bilder von japanischen Frauen zu überprüfen und diese Bilder an der Realität zu korrigieren. Japan ist ein Land, das aus vielen Gründen, vor allem wirtschaftlichen, weltweit immer größeren Einfluß ausübt. Es kann nur von Nutzen sein, die Lebenswirklichkeit von 60 Millionen Japanerinnen realistisch zu sehen.

Wir, die Herausgeberinnen und Autorinnen dieses Bandes, wollen zeigen, daß diese Frauen in geographischer Ferne uns viel näher sind, als man gemeinhin denkt. Unser Wunsch ist es, daß Leserinnen und Leser dieses Buches nach der Lektüre neue, andere, wirklichkeitsnähere Vorstellungen mit den Frauen Japans in Verbindung bringen: z. B. ... Nein, keine neuen, diesmal von uns vorgefertigten Klischees!

Statt dessen ein paar Worte, was Sie in diesem Buch erwartet:

Wir haben eine Melange aus wissenschaftlichen Beiträgen und literarischen Texten vorbereitet. Literatur läßt vieles auf eine andere, direktere Weise begreiflich werden als die zum Verständnis einer fremden Kultur natürlich unerläßlichen sachlichen Darstellungen.

Nippons neue Frauen bietet zuerst einen Rückblick auf das, was war, auf die Geschichte der japanische Frauen. Elisabeth Gössman liefert diese historische Retrospektive. Eva von Schlabrendorff zeigt dann, welche fast unverwüstlichen stereotypen Vorstellungen über Japanerinnen frühe Reiseberichte europäischer Beobachter hervorgebracht haben. "Die Japanerin" oder "die japanische Frau" - dieser im Deutschen übliche Singular, um eine Menge von Millionen unter einen Hut zu bringen - wird ad absurdum geführt von der Widersprüchlichkeit der Stereotype: anmutig und schlurfenden Schrittes, sanft und unkeusch, unterdrückt und dennoch mächtig erstehen die Frauen Japans vor unseren Augen. Wie zäh sich diese fragilen Bilder auch noch bis in unsere Gegenwart halten, zeigt der Beitrag von Karina Kleiber: Viele deutschsprachige Autoren ließen sich bis in die jüngste Vergangenheit hinein die geliebten Bilder von der selbstlosen erotischen Traumfrau, die es wenigstens im Land der aufgehenden Sonne noch gibt, nicht nehmen.

Nach diesen einleitenden Kapiteln setzen wir uns mit den heutigen Lebensumständen auseinander. Die Autorinnen des Buches stellen die Realität, den Alltag der Japanerinnen aus verschiedenen Blickwinkeln dar. Es ist uns nicht darum gegangen, einen vollständigen Überblick über sämtliche wichtige Themenkomplexe und ein geschlossenes Bild von der Situation japanischer Frauen zu vermitteln. Sondern es ist unser Ziel, gleichsam das Scheinwerferlicht auf einige ausgewählte Szenen ihrer Existenz zu richten. Alle gemeinsam ergeben statt des alten Geisha-Teehaus-Fujiyama-Filmes einen neuen Video-Streifen mit teilweise ungewöhnlichen Motiven. Ulrike Wöhr berichtet über Frauen in den neuen Religionen, Eva Bachmayer über das Frauenbild der erotischen Comics, Fleur Wöss skizziert den weiblichen Lebenszusammenhang der heutigen japanischen Frauen mit dem Wissen um die besondere Bedeutung des Selbstmords in der japanischen Gesellschaft. Irmela Hijiya Kirschnereit wiederum gibt einen Einblick in weibliche "Lebensklugheit" und weibliche Konfliktlösungen, die moderne Erzählerinnen wie z.B. Enchi Fumiko und Kôno Taeko in ihrem Texten vermitteln.

Durchaus kontroverse Meinungen zu demselben Gegenstand - z.B. zum 1986 verabschiedeten Gleichbehandlungsgesetz kommen in den Artikeln von Teruoka Itsuko und Claudia Weber zum Tragen. Ebenfalls mit dem Problemkreis "Frauen und Beruf", aber im bäuerlichen Milieu, befaßt sich die Erzählung von Tsumura Setsuko über Die Weberin, die aus Träumen Stoffe webt. Ilse Lenz führt vor, daß in Japan Hausfrauenarbeit weit mehr als bei uns als "Arbeit" anerkannt und sozial geschätzt wird. Die Sehnsüchte, Hoffnungen und Defizite im "privaten Bereich", in Familie, Liebe, Ehe und Sexualität, berührt Ruth Linhart. Ingrid Getreuer-Kargl beschäftigt sich mit der Bedeutung des Alters für "Nippons Frauen". Nagai Junko schließlich schildert die Entwicklung in der Politik. Auf dieser Bühne hatten Japanerinnen lange Zeit nur Statistenrollen. Mit der Übernahme einer Hauptrolle durch die Sozialistin Doi Takako hat hier international am auffälligsten ein Durchbruch stattgefunden.

"Ich bin nur beim Zuhören ins Grübeln gekommen" meint in Tanabe Seikos Kurzgeschichte "Alleine leben" nachdenklich ein Ehemann, nachdem er Frauen das Alleinsein loben hörte. Auch manche Leser und Leserin werden (hoffentlich) nachdenklich, wenn sie von diesen starken, selbstbewußten und humorvollen Japanerinnen lesen.

Nippons neue Frauen konzentriert sich vor allem auf die Lebensbedingungen von Frauen zwischen 30 und 60, also der "mittleren Generation" der Japanerinnen, denn sie sind die Trägerinnen des Umweltwälzungsprozesses. Sie sind die Ehefrauen, die in ihren emotionellen Bedürfnissen oft zu kurz kommen. Sie sind die Arbeitskräfte, die den wirtschaftlichen Erfolg Japans ermöglichen. Sie sind die Wißbegierigen, die sich weiterbilden und die Aktiven, die sich engagieren. Sie sind die Töchter, die ihre alten Eltern - vielleicht als letzte Generation noch - pflegen, und sie sind die Mütter, die ihre Töchter, die jungen Japanerinnen, prägen. Aber vor allem sind sie diejenigen, die zum erstenmal die Traditionen japanischer Weiblichkeit nicht nur in Frage stellen; viele von ihnen versuchen auch, sich in ihrem Leben konkret ein Stück weit davon abzugrenzen.

Im Grunde paßt das Bild von den gekochten Eiern, die in den Sternenhimmel geworfen, statt dem Ehemann serviert zu werden, doch nicht nur für die jungen Frauen, sondern auch für diese mittlere Generation.

Ruth Linhart und Fleur Wöss

Sommer 1990

Ruth Linhart, Fleur Wöss (Hg.)
Nippons neue Frauen
Sachbuch rororo 8585
Reinbek bei Hamburg 1990
S. 9-11


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