Ruth Linhart | Japanologie | Texte


Stadt unendlich langer Küsse

Über das Wien-Bild des japanischen Dichters Saitô Mokichi

Enyû -"Ausflug in die Ferne" - heißt die Sammlung von Kurzgedichten, in der Saitô Mokichi die Eindrücke des Wiener Studienaufenthaltes vom Jänner 1922 und bis Juni 1923 lyrisch zusammenfaßte. Die Tanka (so die japanische Gattungsbezeichnung der Poeme) sind Notizen über die Zeit, in der er seine neurologische Doktorarbeit schrieb, einsam durch Wiener Gassen streifte oder gemeinsam mit einer blauäugigen Wienerin ins Gesäuse fuhr. (Um es gleich vorwegzunehmen, die Gedichte leiden daran, daß sie bei japanischen Lesern nicht jene Assoziationen hervorrufen, die für sie den Genuß dieser lyrischen Gattung ausmachen. Österreicher wiederum empfinden die Stimmungsskizzen ohne ostasiatischen Flair als banal.)

In seiner Prosa reflektierte der Japaner, der uns Österreicher als Exoten sah, u. a. über das Waschen mit kaltem Wasser aus der Schüssel, über Nachthemden für Männer, über die Relativität der Hutregeln (anstößig ist der Hut am Kopf im Stephansdom, der Kopf ohne Hut in der Synagoge!) und ziemlich ausführlich über unsere Zärtlichkeiten:

"... Ich stellte mich in den Schatten eines Baumes... .und sah von dort dem Küssen zu, wahrhaft, der Kuß dauerte unendlich lange. Mir kam es gut eine Stunde vor, als ich mich von dem Baum losriß und eilends diesen Platz verließ. . . ".

Saitô Mokichi hatte, als er nach Wien kam, seine in den japanischen Literaturlexika am ausführlichsten behandelten Tanka-Sammlungen bereits geschrieben. Er war ein Herr von 40 Jahren. Der heute emeritierte Japanologe Dr. Alexander Slawik sprach Saitô Mokichi 1922 an einer Straßenkreuzung in der Nähe der Universität an, um japanisch zu üben. Daraus entwickelte sich eine Freundschaft. Slawik sieht Saitô in der Erinnerung so:

: "Mittelgroß, breite Schulter, Ansatz eines kleinen Bäuchleins, hohe Stirn, Andeutung einer Glatze, Augengläser, weißer Stehkragen, Weste, ein leicht schwingender Gang, sehr lebhaft und heiter".

Saitô stammte aus dem Norden Japans, war aber, wie in Japan nicht unüblich, als Schwiegersohn in die Familie eines Tokioter Nervenarztes mit eigenem Krankenhaus adoptiert worden. Ehe er dieses übernehmen konnte, sollte er im damaligen Mekka der Medizin, dem deutschsprachigen Raum, seine psychiatrische Politur erhalten. Mit großem Fleiß verfaßte er denn auch in Wien als Stipendiat des japanischen Unterrichtsministeriums vier wissenschaftliche Arbeiten. Er dissertierte unter der Leitung von Professor Otto Marburg am Neurologischen Institut mit einer Arbeit über "Die Hirnkarte des Paralytikers". Als er diese fertig hatte, stieß er erleichtert folgenden lyrischen Seufzer aus:

"Da keine Seele neben mir ist, schließe ich die Seiten meiner Doktorarbeit und meine Augen füllen sich mit Tränen".

In seinen Essays kommentiert Saitô - sehr flüchtig - auch die Wiener Psychoanalyse und Sigmund Freud:

"Die Libido-Theorie von Freud reichte schließlich bis zum Lächeln der Mona Lisa des Leonardo da Vinci. . . ". 1939 schrieb er in Japan einen Nachruf auf Freud: "Aber je verbreiteter diese Theorie wurde, desto verwaschener wurde sie durch Fantasie und Popularität..." urteilt er und prophezeit weiter: "Sigmund Freud starb zu dem Zeitpunkt, da neuerdings sein Pan-Sexualismus zu verblassen beginnt. Diese Theorie wird vermutlich eher in der Welt der Kunst und der Literatur seine Spuren hinterlassen als auf dem Gebiet der Medizin ".

Trotz spürbaren Heimwehs in seinen Gedichten scheint Saitô Mokichi den Österreichaufenthalt genossen zu haben. Abschied zu nehmen, fiel ihm nicht leicht:
"Wenn ich denke, daß ich die grünen Wiesen von Mödling nur mehr heute sehe,
fällt es mir schwer,
nicht traurig zu sein".

Neben den Reizen der Natur ("Ein so kleines Land und eine so schöne Landschaft", schrieb er einem Freund), schätzte er auch die österreichische Küche:
"Vom Hirschbraten,
aufgetragen auf dem Tisch,
steigt eine Weile weißer Dampf empor".

Aufmerksam registriert er politische Ereignisse und erinnert sich in den Essays besonders oft an Manifestationen des Antisemitismus, die 1922 und 1923 bereits krasse Ausmaße annahmen. Die Essays sind zwar konkreter als die Gedichte, aber auch sie wirken eigentümlich distanziert, selbst wenn der Autor eindeutig Stellung bezieht. Sie sind wohl nur dann für uns nicht trivial, wenn man akzeptiert, daß diese typisch japanische Literaturgattung des Essays kein anderes Ziel verfolgt, als "niederzuschreiben, was an Nichtigem das Herz durchstreift".

"Essay" heißt auf Japanisch "zuihitsu" - "dem Pinsel folgen". Auf den roten Faden, das sofortige Resümee, deren wir anscheinend so dringend bedürfen, können japanische Schreiber und Leser offensichtlich verzichten. Saitô Mokichis "Anmerkungen", ob zu Sitte oder Politik, sind in diesem Sinne nicht mehr, aber auch nicht weniger als Pinselstriche, die unserem Selbstbild die eine oder andere neue Nuance geben (könnten).

Der Dichter und Arzt starb 1953, nach, wie Alexander Slawik schreibt, drei Jahrzehnten voller Unrast: "Beruf; dichterisches Schaffen, literaturtheoretische Studien und weite Wanderfahrten. Ein Luftangriff im Mai 1945 zerstörte Haus und Klinik. Hohe Auszeichnungen und Ehrungen wurden zu kleinen Lichtblicken auf dem schon durch Krankheit und Vereinsamung gekennzeichneten letzten Lebensweg". Nach Österreich kehrte er nicht mehr zurück; sein Sohn, ebenfalls Arzt, und japanische Literaturwissenschaftler suchten jedoch in Wien und im Gesäuse nach seinen Spuren. Und fanden sie.

Ruth Linhart


Dieser Artikel wurde publiziert im Feuilleton der Wiener Zeitung vom 13. Oktober 1989 S. 8 und am 14.2.2006 ins Internet gestellt.
Zwölf Jahre vor dem Artikel in der Wiener Zeitung veranlasste mich die Spurensuche von Imai Yasuko zu einer aus heutiger Sicht im Ton etwas daneben gehenden Betrachtung über Saitô Mokichi´s "Wiener Werke ": Über Wien nur Triviales".

Literatur:

Peter Pantzer: Habilitationsschrift zu ausgewählten Bereichen der Literatur und Geschichte Japans, "Fliegende österreichische Kronen. Die Essays des japanischen Dichter Saitô Mokichi über seinen Aufenthalt in Österreich, Wien 1985;

Barbara Yoshida-Krafft (Hg.): Blüten im Wind, Essays und Skizzen der japanischen Gegenwart, Edition Fuhrmann, Tübingen 1981;

Alexander Slawik: Der Dichter Mokichi Saitô in Österreich, in: Festschrift, 10 Jahre österreichisch Japanische Gesellschaft, Wien 1983.

Saitô Mokichi: Drei Deutschland-Essays, Acht Österreich-Essays, Aus dem Japanischen von Peter Pantzer. In: Hefte für Ostasiatische Literatur Nr. 36, Mai 2004, S. 9-56.


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