Ruth Linhart | Fotos | Texte | Reisen


Baikalsee

Gekürzte Fassung des Artikels publiziert in welt der frau 7-8/2004 S. 50-53

Text Ruth Linhart, Fotos Hans Hauer


„Alles unter der Sklaverei Erreichte, schien es, wurde unter der Freiheit zunichte gemacht.“

(Colin Thubron, Sibirien Schlafende Erde, Erwachendes Land, S. 222)


Der tiefste See der Welt, der Baikalsee, hat uns enttäuscht. Wir waren eine Woche dort, und er hat uns sein berühmtes Blau nicht gezeigt. „Ein Glück, dass wir so schönes Wetter hatten“, sagte Katja*, unsere Reisebegleiterin am Ende der Reise. „Was wäre denn schlechtes Wetter?“ „Regen und Sturm.“ „Aber der See war grau!“ Katja: „Ja, so ist der Baikalsee wirklich!“

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Touristen sind Leute wie wir. Sie träumen ihr Leben lang von irgendeinem bestimmten Bild, das sich mithilfe von Reiseführern verfestigt. Dann kommt die Gelegenheit, dieses Traumbild in Wirklichkeit zu sehen. Wenig vorbereitet, nur den Traumsee vor dem inneren Auge, so landen wir in Irkutsk. Und sind vorerst einmal verstört. Denn das, was uns empfängt, unterscheidet sich zu sehr von dem, was wir uns vorgestellt haben. Nach der ersten Verstörung nehmen wir die Sache mit Humor, zählen die Tage bis zur Heimreise in unsere privilegierte „Festung Europa“ und sind schließlich glücklich, weil keine der Katastrophen eingetreten ist, mit deren Möglichkeit uns Reiseveranstalter, Reisebücher und eigene Fantasie quälten: Kein Erdbeben der jährlichen 3000. Kein einziger Sturm, obwohl es dreißig bis sechzig verschiedene Stürme gibt. Wir begegneten keinem Bären oder Wolf, obwohl 2000 bzw. 7000 das Ufer des Sees bevölkern. Weder stürzte die betagte Tupolew ab, noch sank unser Kreuzfahrtsschiff „Zaisan“, obwohl der Grund des Baikalsees – an der tiefsten Stelle ist der See über 1600 Meter tief – ein Friedhof sein soll für untergegangene Schiffe, LKWs und PKWs samt Insassen. Und auch die russische Mafia tat uns nicht weh. Nicht einmal die angedrohten Riesengelsen haben uns sekkiert! Mit einem Wort, Burchan, der Gott des Baikalsees, hat uns Undankbare sicher geleitet.

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Irkutsk, die Hauptstadt Ostsibiriens, ist 7000 km und sieben Stunden Zeitunterschied von unserem luxuriösen Wien entfernt. Schon aus dem Flugzeugfenster zeigt sich statt des erwarteten strahlenden Himmels kompaktes Grau, und inmitten des Grau gespenstisch eine rote gefärbte Sonnenscheibe. Es ist sieben Uhr früh, bitter kalt und riecht verbrannt. „Der Smog kommt von der Taiga, die brennt!“ sagt Katja, unsere sibirische Reisebegleiterin. Rundherum grobschlächtige brüllendeTypen, ein Flughafen, der eher an eine Baracke erinnert. Alles schäbig, heruntergekommen und schmutzig. Inmitten dieses Albtraums, der uns nach einer schlaflosen „Kurznacht“ überwältigt, das grazile Mädchen vom Reisebüro Intourist. Das Wort „Love“ glitzert auf ihrem schwarzen T-Shirt unter dem offenen Anorak. Wenn sie lächelt, glaubt man ihr Versprechen, dass Irkutsk eine Kulturmetropole und der Baikalsee „das blaue Auge des Planeten“ sei. Ihre Stimme ist frisch und jung, sie ist höflich und gebildet, und sie scheint ebenso begeistert für die deutsche Sprache zu sein wie für ihre Heimat. Wie sie später erzählt, stammt sie aus einem Dorf am Strom Lena und hat hier in Irkutsk Germanistik studiert. Sie schwärmt von der Studenten-, Theater- und Industriestadt mit den wunderschönen alten Holzhäusern und den prächtigen klassizistischen Bauten wie vor mehr als hundert Jahren der russische Dichter Anton Cechov, der sich nach einer Reise durch die sibirische Einöde im „Das Paris des Ostens“ wiederfand. Als wir selbst nach einer Woche am und auf dem Baikalreise nach Irkutsk zurückkommen, können wir diese Empfindungen sogar ein wenig nachfühlen.

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In dieser Woche wird der Baikalsee nie blau und auch der Himmel nicht. Grau in grau, das bleibt der Eindruck, den wir nach Hause nehmen. Nicht nur wegen des ständigen Dunstes, der das große Wasser, Wälder und Berge am Ufer und die Sonne verschleiert bis versteckt. Für dieses Phänomen dient „die brennende Taiga“ als offizielle Erklärung. Wir bemerken zwar einen brennenden Papierkorb im Wald, der einheimische Spaziergänger offensichtlich nicht beunruhigt. Wir sehen immer wieder einen verkohlten Baum zwischen Lärchen, Kiefern und Birken, aber keine größeren brennenden Flächen. Können einzelne brennende Bäume einen See, der so lang wie Österreich und so groß wie Belgien ist, samt den mehr als 2000 Meter hohen Bergketten am Ufer einnebeln? Vielleicht handelte es sich doch um normales Schlechtwetter? Oder um Smog? Von den Fabriken, über die sich Umweltschutzorganisationen in Russland und weltweit aufregen und die wir – wahrscheinlich auch wegen des gnädigen Dunstvorhangs – nicht zu Gesicht bekamen?

Grau in grau ist aber nicht nur die Natur um uns. Grau in grau wirken die kaputten Fischzuchtanlagen, die rostigen Maschinen, die zerfallenden Molen, die abblätternde Farbe an den Holzhäusern, die Häßlichkeit der menschlichen Spuren, die uns überall, wo wir das Ufer des Baikalsees betreten, ins Auge springt. Der See selbst dehnt sich anthrazitfärbig bis metallen schimmernd von diesen Ufern weg in eine gestaltlose öde Ferne. Wie zum Hohn lese ich im mitgeführten Lonely Planet-Reiseführer: „Lake Baikal, the `Pearl of Siberia´ is a crystal clear body of the bluest water, surrounded on all sides by rocky, tree-covered cliffs, and dotted with tiny settlements of colourful wooden cottages ...“ (S. 203)

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„Russland befindet sich im Zustand des freien Falls, und zwar eines freien Falls ohne Fallschirm“, sagt ein russischer Dichter und Umweltschützer. „Das ist wohl nicht der richtige Moment, über sauberes Wasser und saubere Luft zu reden, wie wichtig dies auch wäre. Viel wichtiger sind heute ein Stück Brot und ein bißchen Sicherheit für die Zukunft, damit die Menschen überleben können.“ Der Film und das Buch von Klaus Bednarz, aus dem das Zitat stammt, übermitteln einen Eindruck, wie es den Menschen rund um den Baikal im Russland nach der Wende und weit weg von Moskau geht. Von ökologischen Verwüstungen ist die Rede, die Kraftwerke, Chemiefabriken, Metallhütten und Zellulosekombinate anrichten, von wilder Bautätigkeit und dem Raubbau durch die sogenannte industrielle Holzwirtschaft, von Arbeitslosigkeit und immer dramatischer ansteigenden Preisen für Wohnungen, Strom, Gas, Lebensmittel, Bahnen und Busse, vom überquellenden Luxus, den einige wenige in vollen Zügen genießen und dem sozialen Elend, dem immer mehr Menschen anheimfallen.

Touristen aber wollen und sollen nur das Schöne sehen. „Diese schrecklichen Kinder“, ist Katja irritiert, als uns in Irkutsk Straßenkinder anbetteln. Sie sind schmutzig und haben in den Augen einen fordernden, verschlagenen und gejagten Ausdruck. Uns fällt als Gegenbild Präsident Putin ein, wie er erst unlängst zum 300. Geburtstag von St. Petersburg Staatschefs aus aller Welt im renovierten Konstantin-Palast empfangen hat. Kostenpunkt der Renovierung 250 Millionen Euro.

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Was war nun das Schöne auf unserer Gruppenreise? Im Juli blühende Fliederbüsche in Listwjanka, dem „St. Wolfgang“ des Baikalsees, wie ein Mitreisender spottet. Wir trotten im Regen über aufgeweichte Wege, photographieren alle das einzige hübsche blauweiß gestrichene Häuschen, wundern uns, dass es außer der Masse an heruntergekommenen Behausungen mit verwilderten Gärten auch einzelne brandneue Villen gibt. „Von schmutzigem Geld“, vermuten einige. In einem überraschend schicken Cafe singt Adriano Celentano „Azurro“, wir essen „Plini“ und trinken „Chai“, Einheimische kaufen halbgrüne Erdbeeren bei der Händlerin, die von Tisch zu Tisch geht. Neben der Straße ist ein Markt mit geräuchertem Omul, „dem“ Fisch des Baikal. Und mit reichhaltigem Angebot an Souvenirs für die wenigen Touristen. Ich erstehe eine Kette aus Tscharoid, ein violettes Mineral, das man nur hier findet. Es ist „endemisch“, wie der Omul und die Baikalmöwe und natürlich die einzige Süßwasserrobbe der Welt und weitere hunderte oder gar tausende Tiere und Pflanzen, dies es nur im und um den Baikalsee gibt. Wir erwarten uns, dass wir in freier Natur in diese Welt eingeführt werden, und vor allem freuen wir uns darauf, einen Blick auf die Robben zu erhaschen. Tatsächlich werden wir in das heruntergekommene Limnologische Museum von Listwjanka geführt und sehen einen Omul, eingelegt in Formalin sowie Robben auf einem alten Video-Film.

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In der kleinen russisch-orthodoxen Kirche von Listwjanka drängen sich Leute. Es findet gerade eine Taufe statt. Vor der Kirchentür erzählt uns Katja: „Jetzt sind viele Russen gläubig. Meine Mutter hat mich früher, als ich einmal das Kreuz machte, furchtbar geschimpft und gesagt: `Mach das ja nie mehr!´ Aber jetzt ist sie auch gläubig. Viele Leute sind nicht getauft in Russland, aber gehen in die Kirche. Ich bin zum Beispiel nicht getauft , aber ich bin gläubig.“

Dann werden wir mit einem kleinen Boot zu der alten Trasse der Transsibirischen Eisenbahn gebracht, die den See entlang führt. Statt wie im Reiseprogramm angekündigt mit der „Nostalgiebahn“ zu fahren, stolpern wir über die schlampig genagelten Schwellen im Nieselregen bis zu einem Tunnel. Gefährlich ist das nicht, denn hier verkehrt nur mehr einmal am Tag ein Pendlerzug. Bei der Rückkehr in den Hafen von Listwjanka fährt gleichzeitig mit uns ein Forschungsschiff der ETH Zürich ein. Einer der Wissenschaftler erzählt bereitwillig: „Wir haben zehn Tage limnologische Untersuchungen gemacht. Das Wasser am Baikalsee ist noch immer sauberer als in jedem europäischen See!“

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Schön waren eigentlich alle Landausflüge unserer dreitägigen Schiffsreise, wenn auch trist-schön, karg-, melancholisch- oder gespenstisch-schön. An Land wärmte uns im Unterschied zum Aufenthalt am See die Sonne. Sie bemühte sich aber vergeblich, den Dunst zu durchdringen. Wir zogen unsere Winterjacken und Pullover aus, und auf der Insel Olchon, die sich 70 km lang in der Mitte des Baikalsees erstreckt, schwammen wir sogar. Während der offene Baikalsee maximal zehn Grad an der Oberfläche hat, sodass man schwimmend höchstens eine Viertelstunde überleben könnte, tummelten wir uns hier in der burjatischen Bucht bei ungefähr 18 Grad Wassertemperatur. Burjaten sind die einheimische Bevölkerung, ein mongolisches Volk, das die Gegend schon bewohnte, bevor im 17. Jahrhundert die Russen nach Ostsibirien kamen. „Die Burjaten auf Olchon sind Schamanisten“, erklärt uns Katja. „Die Bewohner der Autonomen Republik Burjatien im Südosten des Sees sind Buddhisten.“

Am dritten Abend unserer Schiffsfahrt ankern wir in der Bucht vor Chuschir, dem Hauptort der Insel Olchon. Katja weist uns auf die im Abenddunst schemenhaft auftauchenden „Schamanenfelsen“ hin, die auch der Dalai Lama schon besucht haben soll. Am nächsten Morgen eine tomatenrote Sonne, sonst scheinen wir im Weltall zu schweben. Um das Schiff ein riesiger regenbogenfarbiger Ölfleck. Mit dem kleinen Auslegerboot, dessen Motor immer wieder ausfällt, gelangen wir in den Hafen von Chuschir. Abgeweidete Hügel, ein paar magere Kühe, ein Hund, der uns das Aussteigen aus dem Schiffchen erschwert, weil er sich auf den spitzen Stein zwischen uns und den Matrosen drängt, der uns mit starker Hand ans Ufer hievt. „Hier wohnen zirka 1000 Leute. Nur im Sommer und im Winter gibt’s Verbindung zum Festland, im Sommer mit Schiff, im Winter mit Auto über den zugefrorenen See“. „Was tun die Leute hier?“ „Früher gab es hier eine Omulzuchtfarm. Aber die existiert nicht mehr“. Das haben wir schon oft gehört. „Nach der Wende...“ aufgelassen, eingestellt, aufgehört. „Die jungen Leute gehen nach Irkutsk. Die übrigen leben vom Omul-Fang.“

Die Mole aus Holz ragt verrottet in den See. Ehemals weißgestrichene Gebäude verfallen. Kaputte Kamine, rostige Rohre, eine öffentliche Latrine oben am Hügel, verkommen und ohne Türen, wie ein künstlerisches Mahnmal für den Niedergang einer Region. Ein Fischerboot fährt in den Hafen ein, und ein Lastwagen kämpft sich durchs Wasser, bis direkt zum Schiff, von dem die Fische umgeladen werden.

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„Es gibt auch einen Kindergarten hier und eine Schule. Und ein Heimatmuseum“, erklärt Katja. Das sind die schönsten und größten Holzhäuser in dem Dorf, das zwei breite Sandstraßen kreuzförmig durchschneiden. Einige Autos schlittern im Karacho auf und ab. Ein paar wettergegerbte alte Leute sind zu sehen. Hunde. Motorräder mit Beiwagen in Form einer Holzkiste. Diese werden vermutlich für den Robbenfang am Eis gebraucht. Da die Leute ihre Arbeit verloren haben oder für die Arbeit kein Geld mehr kriegen, überlebt man mit Fischfang und Robbenjagd, mit den „Früchten des Waldes“ und der Gärten - und mit der Hoffnung auf mehr Fremdenverkehr. Wieder zu Hause lese ich im Internet ein Angebot zum „Eisfischen in Chuschir“, im März 2004.

Die Sonne scheint blass auf den ockerfärbigen Sand und auf die Blechdächer der barackenartigen Häuschen. Vor einem Bretterzaun ist plötzlich ein Tisch mit Souvenirs aufgebaut, denn außer uns trotten auch ein paar junge Kanadier durch das Dorf. Wir wundern uns, dass es in der Gemischtwarenhandlung Bananen und Nektarinen gibt und kaufen bunte Schreibhefte. Auf dem Umschlag ist ein Gedicht abgedruckt. Leider kann ich es nicht entziffern, denn ich habe mir vor der Russlandreise nicht die Mühe gemacht, die kyrillische Schrift zu erlernen.

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„Ich glaube, der Baikalsee hat auf Sie wirklich guten Eindruck gemacht,“ sagt Katja, als wir am nächsten Tag im Bus zurück nach Irkutsk fahren. Und wirklich, so grau, so ungemütlich, so bedrückend es auch in Irkutsk und am Baikalsee war, ein kleines Stückchen von dort ist in mir geblieben und wärmt mein Herz für diese karge Gegend. Dort leben Menschen wie die zukunftsfrohe Katja und Mascha, die energische Blondine, die uns am Schiff bekocht hat, wie die Kellnerinnen, Etagenfrauen und Aufräumefrauen in den Hotels, die jungen Matrosen und der Kapitän der „Zaisan“, die Verkäuferinnen im Laden von Chuschir, das alte Ehepaar auf der Bank vor ihrem Häuschen ...

„Behalten Sie die Erinnerung an den Baikalsee, an die schöne Natur und an sein klares Wasser, und eines Tages werden Sie den Wunsch spüren, wiederzukommen“, verabschiedet sich Katja. Momentan kann ich mir das nicht vorstellen. Aber tatsächlich haben wir den „schönen Baikalsee“ ja noch nicht gesehen, und der ist sicher eine Reise wert.


Quellenangabe:


Die Ballade vom Baikalsee, dreiteilige Fernsehdokumentation von Klaus Bednarz, 1998

Klaus Bednarz: Ballade vom Baikalsee, Begegnungen mit Menschen und Landschaften, Bastei Lübbe 60485, 2000

Simon Richmond, Mara Vorhees: Trans-Siberian Railway, a classic overland route, Lonely Planet Publications, Victoria, Australia, 2002

Colin Thubron: Sibirien. Schlafende Erde, erwachendes Land, Knaur-Taschenbuch 77638, aus dem Englischen von Hans Ulrich Möhring, München 2003


Gekürzte Fassung publiziert in welt der frau 7-8/2004 S. 50-53


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