Ruth Linhart | Texte


Angst

Jemand versuchte, eine Autotür so leise wie möglich zuzuschlagen. Dann war es still. Nur das Zirpen der Grillen.

Obwohl sie ihr aufmerksames Gesicht weiter beizubehalten versuchte, hatte sie innerlich das Gespräch mit ihrer Schwester abgebrochen. Es schaut so aus, als ob ich mich dafür überhaupt nicht interessieren würde, dachte sie. Ich müßte ihr sagen, daß das ein Mißverständnis ist, ich fürchte mich nur. Aber dann fürchtet sie sich auch.

Die Angst kam ganz plötzlich über sie. Soeben war sie noch unter der stoffüberzogenen Tischlampe gesessen, die Teeschale in beiden Händen, diskutierend. Die Kinder schauten in der Stube Fernsehen.

Die kleinen Fenster der Bauernküche sperrten das nächtlich dunkle Viereck nicht durch Vorhänge hinaus. Die Gitter vor den Fenstern setzten sich nur mehr wenig von der Farbe der Enddämmerung ab. Gerade noch war die Küche ein gemütlicher Hort schwesterlicher Zuneigung gewesen.

Auf einmal, durch ein leichtes Klappern, war sie zur einsamen hellen Insel, schutzlos weit und breit zwischen den menschenlosen Hügeln und Wäldern des Mühlviertels geworden.

Unter einem Vorwand ging sie hinaus, vor das Tor. Wie immer war das erleichternd. Die kühle Spätsommernacht nahm sie tröstend auf. Da ist doch niemand, sagte sie sanft. Schau, die unschuldige Natur. Niemand, der es auf euch abgesehen hat. Nur harmlose Pflanzen und Tiere.

Ja, warum sollte es heute anders sein, als schon 400 Nächte vorher, die Renate hier verbracht hatte. Noch nie hatte sie jemand belästigt. Und es hatte bereits viele Samstagabende gegeben. Doch einmal, einmal, aber das war am hellichten Tag, stand Therese, die Nichte, plötzlich vor einem jungen Mann, der hier in der Einschicht hinter einem Busch hervortrat. Therese verjagte ihn mit einem harmlos erstaunten: "Was machen denn Sie da?"

Ein Jahr war seither vergangen. Noch nie reizte es die Burschen der Umgebung, es den Frauen auf dem verfallenden Hof "zu zeigen". Aber immer ist einmal das erstemal! Und warum nicht heute?

Sie trat ins Haus zurück. Fasse dich, redete sie sich zu. Sei vernünftig! Aber ich bin ja vernünftig. Es passiert doch öfters, daß Frauen überfallen werden. So hilflos wie hier sind sie an wenig Orten. Blödsinn. Du mußt die Nacht hier überstehen und du darfst nicht hysterisch werden, sonst werden es auch Renate und die Kinder. Sie drängte mit Mühe jede Äußerung über ihren inneren Zustand hinunter und bemühte sich, von dem ohne ihr Zutun in ihrem Inneren laufenden Angstfilm loszukommen, sich wieder in die Sicherheit, in die Gemeinsamkeit zurückzukuscheln. Aber es gelang ihr einfach nicht mehr.

Die Autotür klappte immer wieder zu. Andauernd rauschte es leise in ihren Ohren wie von ferne heranfahrenden Wägen.

Eigentlich wäre sie am liebsten ununterbrochen ins Freie gegangen, sich zu versichern, daß sie wieder von ihrer Fantasie betrogen worden war oder war es diesmal doch.....Im Freien schlafen, wie wäre das?, erwog sie kurz. Zu kalt, warf sie selbst ein, und dann: Draußen hätte ich doch auch Angst.

Später lag sie im Bett. Ein breites Bett, oder besser, nur eine Matratze, die des ehemaligen Ehebettes ihrer geschiedenen Schwester. Daneben ein sauberer schneeweißer Fleckerlteppich. Auf den hell geschrubbten Holzdielen Tücher ausgebreitet mit Blättern von Königskerze, Kamille, Ringelblume, Hartriegel, Minze. Ein feiner frischer Duft. Zwischen den geschlossenen Fensterflügeln flatterte aufgeregt ein Nachtfalter. Sie hatte die Fenster zugemacht, weniger der Räuber wegen als wegen der Ungeziefer. Aber dieses Klappern des an die Scheiben torkelnden Tieres machte sie nervös. Sie öffnete die Fenster wieder. Da flog der beige-schwarz gemusterte Falter blitzschnell auf die Leselampe zu.

Das Buch, das sie las, war interessant. Über eine italienische Faschistin in deutschen Arbeitslagern während des zweiten Weltkrieges.

Wie im Flugzeug, dachte sie. Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren als auf meine Angst. Die kriecht zwischen die Buchstaben und unterbricht den Weg vom Blatt zum Hirn. Sie ist draußen, sie ist drinnen, sie ist im Herz, im Kopf, sie ist im gesamten Blutkreislauf. Während Autorin Lucia im Arbeitslager auf Streik sann, sann sie selbst auf Mittel, sich vor der Übermacht der ankommenden Rockerband oder Stammtischrunde oder des einzelnen Lüstlings zu erwehren. Mittendrin fielen ihr die Augen zu.

Es krachte. Ihr Herz hämmerte so wild, daß alles weh tat, vom Kopf bis zu den Zehen. Das Licht war ausgelöscht. Es ging alles ungeheuer schnell. Die Lampe, die Lampe, dachte sie noch. Dann packte jemand eisenhart ihren Arm, ohne Worte, lautlos. Sie wollte schreien. Es ging nicht. Vor Angst war sie stumm, aber sie war nicht bewußtlos. Die Hand hielt ihren Arm wie in einem Zwinger. Kein Wort. Aber auch sonst nichts. Es ging nicht weiter. Der Film angerissen. Draußen hörte sie die Zikaden zirpen, hier war es stockfinster und ein Fremder hielt ihren Arm. Dann schrie sie endlich.

Und es war nichts. Das Licht brannte. Der Nachtfalter hing zusammengeklappt an der Wand. Nebenan schabte Therese im Schlaf mit den Beinen an der Wand. Benommen stand sie auf, ging zum Fenster, schaute hinaus.

Die Nacht fächelte um ihr Herz. Ist doch nichts, sagte sie sanft. Alles still. Aber von da drüben....Es rauschte. Dauernd rauschte es. Ist das in mir? Auf irgendeiner fernen Straße Autos, wahrscheinlich.

Und jetzt, jetzt um halb zwölf, rücken sie im Wirtshaus die Stühle zur Seite. Gehen wir, sagen sie. Na wart', die werden heute noch eine Überraschung erleben, die mit ihren Schlabberhosen, die da meinen, sie wären was besseres. Na, das wird a Hetz.

Und in der Disco, drüben, da machen die Lederbejackten sich auf, vielleicht schwingen sie ihre Ketten und es rinnt ihnen schon das Wasser im Mund zusammen beim Gedanken an den Schrecken, den sie uns einjagen wollen.

Was tun? Kein Telefon. Keine Waffe. Das nächste Bauernhaus außer Reichweite von Schreien.

Nichts können wir tun. Aber es kommt auch niemand. Geh ins Bett. Wann ist die Gefahr vorüber? In Wirklichkeit nie, denn es hat auch schon Überfälle am hellen Tag gegeben und Hilfe ist hier auch keine bei der Hand, wenn die Sonne scheint. Ja, aber wann fürchtest du dich endlich nicht mehr so? Wenn es hell wird. Hell wird es um vier oder fünf Uhr, gerade die Zeit, zu der sich die Nachzügler auf den Heimweg machen, die volltrunkenen, die nicht mehr bei sich sind, nicht mehr ansprechbar durch vernünftige Worte, mit denen man versuchen könnte, sie zur Räson zu bringen. Jetzt leg dich schlafen.

Lese noch etwas.

Sie legte sich wieder hin. Ein bißchen beruhigt. Warum sollte gerade heute.....Warum aber auch nicht?

Der Nachtfalter flatterte erschreckt hoch. Jetzt, Jetzt, Jetzt. Jetzt heulten die Motoren kurz auf. Und starben sie ab. Nicht nur einer. Mehrere. Zwei, drei, vier Autos. Und Männergrölen. Jetzt traf es ein, jetzt war es soweit. Was sie immer schon befürchtet hatte. Jetzt kam die Stunde. Sie setzte sich auf. Zitternd, aber ganz klar. Sie stand auf. Sie löschte die Lampe aus. Sie lief barfuß aus dem Zimmer, über die gesenkte Fläche der Diele, unter ihren Füßen die Strohmatten, zur Schwester. Die war schon wach. Finster auch hier. Unten Pumpern an der schweren Tür. Mein Gott, wenn nur der Schlüssel hält. Dieses Schloß war nicht allzufest. Dieses Schloß und die Gitter vor den Fenstern.

Aufmachen, Besuch is da! Furchtbares Grölen der Stimmen. Ich geh hinunter. Nein. Doch. Leise, leise. Über die Stiege, über den Steinboden in die Küche. Mein Gott, Taschenlampen zwischen den Fenstergittern. Sie sahen nichts von den Gesichtern draußen, aber die draußen, die sahen nun sie.

Messer wollten sie. Messer aus der Küchenlade. Hearst, de schaun aus, de brauchn aber dringend was zwischen den Arsch. Machts endlich auf. Schnell, wir haben's schon eilig!

Wieviele waren da draußen. Fünf oder mehr? Das waren keine Rocker. Das war die Wirtshauspartie. Ich hab' es gewußt, ging es wie auf einem Tonband durch ihren Kopf. Ich habe sie schon erwartet. Jetzt sind sie da. Sie waren nicht zur Küchenlade vorgedrungen. Im Schein der Taschenlampen von draußen wollten sie sich nicht bloßstellen. Sie waren zurückgewichen in den Hausflur. Dunkel hier. Kein Fenster. Und jetzt noch die Kinder! Therese laut schreiend. Mama, Mama, ich fürcht mich, was wollen die? Klaus kreidebleich, die Augen aufgerissen.

Und das Hämmern an der Tür. Wird's bald. Seid's doch nicht so ungastlich. Auf a Glasl Bier. Oder habt's leicht nur an Kamillentee. Mit denen kann man nicht reden, nein, was steht da, ein Kübel, noch einer. Die Tür bricht auf. Schattenhafte Gestalten torkeln herein, brüllen vor Lachen, stinken. Kübel als Waffen. Sie nimmt den einen und schlägt, so fest sie kann, auf den eindringenden Mann.

Und liegt im Bett. Der Falter flattert. Das Fenster klappert. Ein Windstoß. Sie schwitzt. Zwischen ihren Brüsten ein See. Der Rücken schmerzt. Sie schnellt auf, ans Fenster. Wind ist aufgekommen. Die Sterne blitzen auf dem riesigen Himmel. Die Nacht schweigt sanft. Kein einziges Auto außer ihrem unter dem Fenster. Sie weint. Ich halt das nicht aus, murmelt sie leise. Ich halt es nicht aus. Aber was soll ich nur machen? Aufwecken, sagte die Schwester gestern

Du kannst mich jederzeit aufwecken. Aber was sollte die? Zusammen mit mir zittern? Leg dich hin. Ist doch ein Wahnsinn, sich so hineinzusteigern. 400 ruhige Nächte und gerade heute sollten sie kommen! Aber wir können uns überhaupt nicht wehren.

Sie knipste das Licht ab. Vielleicht kannst du im Dunkeln besser die Stunden überbrücken bis es hell ist. Lieber Gott, betete sie und die dritte Stimme in ihr lachte , wie immer, wenn sie zum lieben Gott Zuflucht nahm, an den sie doch gar nicht glaubte, aus dessen Kirche sie schon vor langer Zeit ausgetreten war. Lieber Gott, überhörte sie den eigenen lästigen Zynismus. Laß mich endlich schlafen bis zum Morgen. Und im übrigen, wenn jemand käme, wirklich käme, obwohl der Gedanke völlig unrealistisch ist, wer sollte etwas von uns wollen, so kannst du doch vernünftig mit ihm reden. Warum willst du immer gleich Bedrohungen mit Gewalt beantworten? Mach die Tür auf, wenn es klopft, laß sie herein. Versuch alle Kraft zusammenzunehmen, alle Fassung. Steh da in deinem dunkelblauen japanischen Schlafrock, eine Frau Ende 30, zwei Kinder im Haus, in der Tür mit der schönen alten Steinfassung, irgendeine Jahreszahl ist eingeritzt. Ja, der Bauernhof hat schon Jahrhunderte gesehen, tausende Nächte ohne Überfall, oder vielleicht doch nicht? Krieg, Soldaten, Russen, Mädchen, Frauen, die im Stroh Schutz suchten, sie liefen ihnen nach, fanden sie, welche Qual, welche Angst, ich kann es ihnen nachfühlen. Daß die Frauen das überlebt haben.....

Du stehst also in der Tür. Du sagst, jetzt warten Sie einmal, kommen Sie herein, in die Küche. Die torkeln herein, sind erstaunt, weil keine Angst ihnen entgegenzittert, verlieren die Lust, trinken Ringelblumentee in ihrer Verblüffung, Gespräche, der Morgen dämmert herauf, sie gehen wieder, bekehrt, fadisiert, mit Respekt, was auch immer. Auf jeden Fall abgewehrt.

Schlaf jetzt. Wenn wer kommt, wirst du gefaßt sein, keine Angst zeigen. Es ist sehr unwahrscheinlich und wenn es eintrifft, nützt dir kein hirnloses Entsetzen, sondern nur ruhiges In der Hand haben der Situation,....

So, jetzt muß ich es beweisen.

Eine Taschenlampe blitzte ihr ins Gesicht. Dasselbe rhythmische Zittern wie vorher, als es unten klopfte. Die Taschenlampe zielt vom Fenster her. Das einzige Fenster im Haus ohne Gitter.

Sie sieht einen Augenblick nichts, geblendet von der Helligkeit. Sie tastet nach ihrem Licht, findet es nicht. Wundert sich, daß das Entsetzen ihr nicht die Hände lähmt. Eine Gestalt mit baumelnden Beinen am Fensterbrett, ihr zugewandt. Eine junge Gestalt. Sachen glänzen silbrig. Erkennt sie weiße Bemalung im Gesicht, schwarzgeschminkte Lippen, rotumrandete Augen, eine Stoppelfrisur, Ketten um den Hals, Nieten an den Hosen? Die eine Hand in der Tasche, lässig, auf einem fremden Fensterbrett, in einem fremden Zimmer, in einem fremden Milieu. Ein Rocker. Gehört der hierher in die saubere Frische eines weiblichen Bauernhofes? Sie weiß jetzt nicht mehr, träumt sie, ist sie wach? Alles mischt sich. Halb setzt sie sich auf. Gefaßt sein, Ruhe, gefaßt sein, Ruhe, gefaßt sein, Ruhe. Der sagt nichts, oder doch?

Laß uns rein. Mehr noch da? Wo? Weck niemand auf. Laß uns rein. Warum? Was ist, was wollen Sie? Laß uns rein, wird's bald. Steh auf, mach die Tür auf. Ich mach die Tür auf? denkt sie, fragend. Selbst die reinlassen? Wo wir doch außer diesem einen Fenster eine feste Burg haben, die Tür vorne verriegelt, die Tür in den Innenhof versperrt, die Gitter. Die hängen an allen Fenstern, sagt der höhnisch. Wir schneiden die Gitter durch. Laß uns jetzt rein. Wir kommen sonst anders. Er zieht ein Messer. Es blitzt silbrig wie die Ketten und die Nieten. Er gleitet vom Fensterbrett herunter, kommt auf sie zu. Die Holzdielen knarren. Therese dreht sich drüben um.

Mein Gott (wieder Gott!). Die Kinder. Die Zähne klappern. Sie zieht den Schlafrock ganz fest zusammen, springt auf, nach hinten kann sie nicht ausweichen, da ist die Wand. Pst, flüstert sie. Kinder. Pst. Ich mach auf. Aber das ist ja ein Wahnsinn, wie kannst du aufmachen? Er hält das Messer gegen sie. Ich schlag es ihm aus der Hand. Er hat kein Gewehr. Ohne Gewehr ist er hilflos. Sind da wirklich noch mehr da? Ich hör nichts. Alles lautlos still jetzt. Sie geht vor. Er mit dem Messer hinter ihr, die Taschenlampe von ihr abgewandt. Rote Augen, schwarze Lippen, weiße Haut, wie ein Schlager. Irr, welche Sätze ihr durch den Kopf gehen. Das Messer im Rücken, beinahe, es würde sie nicht überraschen, wenn es im nächsten Moment zwischen ihren Rippen steckte. Aber er stößt nicht zu. Gefaßt, ruhig. Vielleicht rettet uns das.

Die Stiegen hinunter. Leise, ganz leise. Er ist auch leise. Um die Ecke. Sie traut sich nicht nach hinten zu schauen. Sie hört seine Schritte, aber keinen Atemzug. Vielleicht hat er Turnschuhe an, sicher keine genagelten Sohlen, weil er so leise ist. Nach vor, wieder barfuß über den Steinboden, wie oft noch in dieser Nacht? Hinter ihr das Messer, vor ihr die Tür, und draußen? Wer wohl, Werwolf, sei kein Narr, Burschen, Mädchen, verwirrt vom Cola mit Rum, keine Ahnung wie die Disco-Getränke heute heißen. Vielleicht sind das gar keine Rocker? Immer sollen es die sein, du hast doch Mitleid mit ihnen, Verständnis. Du weißt doch, warum sie so sind, warum sie in fremde Bauernhäuser eindringen? Keine Ahnung. Unsinnig, was ihr durch den Kopf rast, an Gedankenfetzen, Wortschablonen, Artikelüberschriften, Diskussionsbeiträgen, Verteidigungsreden....Jetzt, die Tür. Der Schlüssel, kühl, leistet Widerstand. Mach auf, zischt die Stimme hinter ihr. Jetzt geht es, er dreht sich. Drück die Klinke herunter, murmelt es hinter ihr. Das Messer. Sie tut es. Sie öffnet. Die Tür quietscht.

Ich liege ja, oder stehe ich? Wo bin ich? Nacht, dunkel, Licht, Licht. Was tanzt da vor mir auf und ab? Welche dunklen Fetzen, Köpfe, nein, es schwankt alles. Nein. Schlafe ich, bin ich wach? Was ist? Licht, Licht. Wo ist dieser Druckknopf. Immer in den fremden Zimmern diese Angst, weil ich das Licht nicht finde. Wie oft schon!

Augen zu. Nein, es geht nicht, wenn ich die Augen zumache, das halte ich nicht aus. Diese Übermacht von Gesichtern, roten Augen, schwarzen Lippen, weißen Wangen, nein, nein, lieber die dunklen wogenden Fetzen, die nichts tun. Licht, Licht. Aber ich rühre mich ja nicht, wie soll ich das Licht finden. Unendlich mühsam jeder Zentimeter Bewegung unter dem Alpdruck der Angst. Unendliche Überwindung, nur einen Finger zu rühren, geschweige denn die Hand. Ich muß da raus. Ich muß da raus. Raus aus dem Glashaus des Entsetzens, aus der Höhle der Furcht. Das erdrückt mich noch. Dreh doch das Licht auf, schnell, dann ist alles wieder normal. Endlich hat sie es geschafft. Wie friedlich das Zimmer ist. Wieder alles nur Traum. Und kaum eine halbe Stunde später als vorher. Sie nimmt die Armbanduhr, die digital und geräuschlos halb vier Uhr zeigt. Die Ringelblumen in der Vase. Sie steht schwer auf. Streckt sich. Tritt ans Fenster. Ach ihr schönen Sterne, wie lieb ihr funkelt. Auch ihr seid eine Bedrohung, in Wirklichkeit, und die Satelliten und die Atombomben, aber hier dehnt sich die Nacht weit und still und nichts will dir in diesem Augenblick weh tun. Warum kannst du nicht schlafen, armes Kind?

Sie löst sich schwer von der friedlichen Dunkelheit, kehrt zum Bett zurück. Legt sich hin, setzt sich wieder auf, richtet den Polster hoch. Ich lese jetzt, bis es hell wird. Wie lange wird das dauern? September. Schon bis fünf Uhr. Nun ja, nicht mehr lange. Aber schon vorher fällt ihr das Buch aus der Hand. Im Halbschlaf, der sie milde umnebelt, löscht sie das Licht aus, wirft den Polster aus dem Bett. Hoffentlich ist es bald hell.

Es ist soweit. Als sie die Augen aufschlägt, Morgensonne im Zimmer, auf den weiß gekalkten Wänden, der Himmel leuchtet dunkelblau durch das kleine Fenstergeviert. Ach, wie froh sie ist! Sie gähnt, sie freut sich. Sie hüpft leise aus dem Bett, damit die Kinder nicht aufwachen, bückt sich nach der Uhr. Sieben. Auf das Frühstück muss sie noch lange warten. Sie stützt das Gesicht in beide Hände, fährt sich mit den Fingern über die Augen, Stirn, massiert sich den Nacken. Das war eine Nacht! Und nichts ist passiert. Sinnlose Ängste. Zwischen den Fingern sieht sie den Nachtfalter leblos auf dem weißen Fleckerlteppich liegen.

Tot das Tier. Tot. Warum? Wieder rührt ihr Herz dumpfe Angst. Stechend wie eine Pinzette an eine offene Wunde. Weg mit der Angst. Der ist halt krepiert. Na und! Sie nimmt ihn mit den Fingerspitzen und wirft ihn beim Fenster hinaus.

So, und jetzt mache ich einen Spaziergang, denkt sie. Schlüpft drunten im Hausflur in die gelben Gummistiefel, öffnet die Tür, geht hinaus, ein strahlender Morgen zu Anfang des Herbstes, ohne Dunst, ohne Dämpfe auf dem Boden, klar drüben auf dem anderen Hügel der ferne Bauernhof, glänzend der Tau auf den Grashalmen.

Langsam geht sie ums Haus. Da ist der Busch, aus dem der Bursch trat, der Therese erschreckte, erinnert sie sich, lächelnd über die Angstgefühle der Nacht.

Den fremden Schatten merkt sie nicht. Erst die Wirklichkeit der brutalen Hand, die ihr jeden Hilfeschrei unmöglich macht.

Ruth Linhart, 1982


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