Ruth Linhart | Texte


Die Brücke von Apita
oder Erdbeben in Japan


Jedesmal, wenn ich die Brücke von Apita überquere, weiss ich, dass ein Erdbeben sie genau jetzt zerstören wird. Ich gehe schnell über den brüchigen Asphalt und tatsächlich, vor meinen Augen bricht die Brücke zusammen. Ich spüre, wie das leise Zittern, das jeder Fußgänger verursacht, sich von einer Sekunde auf die andere in ein heftiges Schwanken steigert. Mein Herz tobt in meinem ganzen Körper. Ich versuche zu laufen. Aber gleichzeitig mit ohrenbetäubendem Lärm stöhnt das eiserne Brückengestell auf. Die graue Fläche unter meinen Füßen sinkt in die Tiefe. Eisentrümmer, Betonsstücke - und ich wirbeln in der Luft.

Mehr passiert nicht, denn zu diesem Zeitpunkt bin ich bereits am anderen Ende der Brücke angelangt. Von einer Ampel zur anderen Ampel. Auf einem dreiviertel Meter breiten Asphaltstreifen, den eine weiße Linie von der schmalen Fahrbahn abgrenzt. Täglich zweimal zerbirst diese Brücke über der Stadtautobahn in einem heftigen Erdbeben, und täglich zweimal gelange ich gerettet ans andere Ende der Brücke, ans sichere Ufer.

Aber auch auf der anderen Straßenseite bin ich natürlich nicht sicher. Ich schaue auf die zahllosen Leitungen, die über mir die Luft zerschneiden. Und da bäumt sich die Erde auf. Die Masten stürzen um. Sie reissen die Stromleitung mit, die gerade noch über mir schwankte. Glühender Draht schlingt sich um mich, und meine Haut verbrennt mit lautem Zischen. Schwarz wie die Leichen, die ich einmal bei einem Vortrag über Stromunfälle in der Arbeitswelt gesehen habe, so schwarz und verkohlt bleibe ich unter den Trümmern zurück.

Ich fasse nach meiner Handtasche. Ja, sie ist noch da. In der Handtasche befindet sich ein Fläschchen Psychopax. Dieses Fläschchen ist mein größter Schutz.

Ein Erdbeben in der U-Bahn. Stöhnen, Schreie in dunklen verschütteten Gängen. Ausströmendes Gas. Ratten über meinem Gesicht. Schlangen. Mein Täschchen mit Psychopax! Ich bringe den Reisverschluss auf. Ich bringe den Druckknopf des Seitenfaches auf. Ich bin noch imstande, den Verschluss der Glasflasche umzudrehen. Und dann, die ölige Flüssigkeit in meinen Mund. Vorbei sind Schmerzen und Angst.

Aber, ich bin ja nicht in Tokio. In der Stadt Hamamatsu gibt es gar keine U-Bahn. Das kann mir hier nicht passieren, dass das erwartete Erdbeben mich in der U-Bahn beziehungsweise in ihren unterirdischen Fahrbahnen einschließt.

Doch auch hier in Hamamatsu ist das nächste Erdbeben die große Obsession.

„Dieses Haus ist ganz sicher“, sagt Frau S., bei der ich wohne. „Deshalb haben wir dich ja auch hier bei mir einquartiert.“ Sie zeigt mir die Schränke und Regale, die an die Wände angeschraubt sind. „Bei dem großen Erdbeben in Kobe sind die meisten Menschen gestorben, weil sie unter ihren eigenen Möbeln eingesperrt waren und vor den Bränden, die entstanden, nicht fliehen konnten.“

Aber das Erdbeben begnügt sich nicht mit den Schränken und Regalen. Als es kommt, stürzen das Dach und die Wände ein, die Erde unter dem Haus bricht auf und verschlingt uns alle.

„Wenn ein Erdbeben ist, läufst du einfach in die Hatsuoi Volksschule. Dort wird man im Katastrophenfall mit Nahrung und Wasser versorgt“.

Am Abend nach diesem Ratschlag richte ich mir eine Erdbebennotfallstasche her. Ich habe im Fernsehen erfahren, dass die Japaner solche Taschen parat haben. Mein Reisegeld, meinen Pass, mein Flugticket, meine memorys mit den bisherigen Interviews, die Filme, die ich bereits ausphotographiert habe. Ja, und Wasser. Ich kaufe extra eine kleine Flasche Wasser. Und Kekse.

Jeden Abend schlüpfe ich in meinen blauen Seidenschlafsack, den ich über die Futon auf dem Tatamiboden gebreitet habe. Ich bete: „Lieber Gott, lass kein Erdbeben sein!“ Dann wache ich auf, weil es so laut ist. Krachen, Knallen. Das Zimmer dreht sich. Die dünnen Wände des japanischen Einfamilienhauses zerbiegen sich quietschend. Das Herz rast im Körper herum. Es ist unmöglich aufzustehen. Es gibt keine Möbel in diesem Zimmer, aber Fenster, und vor den Fenstern metallene Rollos, die das Erbeben zusammenfaltet. Meine Tasche. Weg, weg hier. Nichts wie weg. Hinaus, hinüber, zu der Hatsuoi-Volksschule. Aber es ist unmöglich, aus dem Haus zu gelangen, das mich wie eine zerquetschte Sardinenschachtel umgibt. Das Feuer knistert hinter den zerbeulten Wänden. Mein Psychopax! Das Fläschchen zerschmettert. Ich schreie.


Keine Träume. Wirklichkeiten. Ein Land in der Erdbeben-Obsession. Wenn ich das Fernsehen einschalte, jedesmal, wie mir scheint, ein Ratschlag, was man im Falle eines Erbebens .... , eine Meldung über Wissenschaftler, die herausbekommen haben, dass das nächste Erdbeben....., ein Bericht von der Bucht von Tokio mit einem neuen Damm, der beim großen Erbeben .....

„Ich habe meinem Mann gesagt, er darf nicht in der Unterhose schlafen. Was wäre, wenn ein Erdbeben ist! „ „Ja, aber, das ist doch im Falle eines Erdbebens sicher allen egal, ob dein Mann in der Unterhose schläft oder nicht!“ „So ist das nicht! Die Nachbarn würden nachher erzählen, dass er in der Unterhose ins Freie gelaufen ist!“

Wenn ich in der Dusche stehe, splitternackt, und mir die Haare wasche, sodass ich nichts sehe vor Seifenschaum, genau dann schlägt das lange erwartete Erdbeben im Norden von Hamamatsu zu. Hier, wo die Erde so hart ist, dass es viel ungefährlicher ist als im Zentrum der Stadt, die mehr oder weniger auf Sand gebaut ist. Oder noch weiter gegen den Strand, wo die Tsunami-Wellen alles mit sich reißen.

Genau dann, wenn ich in der Dusche stehe, sogar ohne Unterhose, überfällt mich das Krachen, Knirschen, Ächzen und Stöhnen, mit dem das Einfamilienhaus auf das Erdbeben reagiert. Es ist kalt, es ist Nacht. Meine Erdbebensicherheitstasche, mein Psychopax, nicht weit weg, aber unerreichbar. Die Türe verbeult. Ich kann nicht hinaus. Die Badezelle verbiegt sich und klemmt mich ein. Blind von Seifenschaum, splitternackt, so bin ich ihr ausgeliefert, der gräßlichen Kraft aus dem Innern der Erde.


„Heute vormittags war eine zweistündige Sitzung“, erzählt mir Frau I., als ich nachmittags zum Interview ins Pflegeheim „Garten Eden“ komme. „Über Erdbebenvorsorge.“

Alle Klienten und Klientinnen hier sind mehr oder weniger bewegungsunfähig. Frau I. ist an den Rollstuhl gefesselt. „Wenn ein größeres Erdbeben ist, sollen wir auf den Parkplatz Nummer drei flüchten.“ „Weißt du, wo der ist?“ „Nein. Ich kann ja sowieso nirgends hin flüchten, mit meinem Rollstuhl!“ Als das Erdbeben eintrifft, sitzen wir gerade beim Abendessen. Die Betonwände knirschen. Putz fällt von der Decke. Die Karniesen der großblumigen Vorhänge rutschen aus ihren Befestigungen. Die Soyasoße schwappt über das Frotteehandtuch, das Frau I. beim Essen umgehängt hat. „Tasukete kure, tasukete kure, Hilfe, Hilfe“, schreit die über hundertjährige Frau, die mit dem Rollstuhl umgestürzt ist. „Hol mir eine andere Soyasoße aus dem Eisschrank“, befielt mir Frau I. hingegen in voller Ruhe. Im ihrem Zimmer sind nur ein paar Bücher aus den Regalen gerutscht und der behindertengerechte PC hängt schief unter dem Schreibtisch. Das behindertengerechte WC ist ebenfalls demoliert. Aber sonst ist nichts passiert. Ich atme erleichtert auf. Im Falle des großen Erdbebens ist der „Garten Eden“ von Hamamatsu der sicherste Ort.

Ruth Linhart, Podium, 131/132, Thema Obsessionen, April 2004, S. 16 - 18


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