Ruth Linhart | Texte


Der Regenbogen

Jeden Morgen ging sie denselben Weg. Sie nahm die Untergrundbahn Nummer vier, kaufte schnell, um nicht eine Minute zu spät zu kommen, bei der Bäckerei eine Jause für die Mittagspause, überquerte dann die Straße, vielbefahren, aber zum Zebrastreifen würde es zu weit zum Gehen sein. In die knappe Zeitrechnung, die für den morgendlichen Büroweg aufgestellt war, paßte das nicht mehr hinein. Die Parkmauer entlang, sobald sie über Geleise und Sperrlinie und auf der anderen Straßenseite auf den sicheren Gehsteig gestiegen war. Vorfreude auf das Einschwenken in den Park, ohne Autoabgase und Autogeräusche. Grün die Allee. Vorfreude auf den Schwenk um die Ecke, der dann den Blick öffnen würde auf die Blumenrondelle, die breit lagernden Kuppeln des Palmenhauses, die Umkränzung der Parkbäume um diesen bunten Blick und auf den weiten Himmel mit den schöngestaltigen Wolken darüber.

Diese kurze Strecke nahm vielleicht zwei Minuten ihres Tages ein, wenn übrhaupt. Vom Tritt auf die Gehsteigkante, von der Rechtswendung in die Richtung entlang der Parkmauer bis zur Linkswendung beim schmiedeisernen Parktor, am Parkwächter in seiner Koje aus Plastik und Plexiglas vorbei und schließlich bis zur neuerlichen Rechtswendung, durch welche die heile Welt des Schönbrunner Parkes in ihren Blick geriet. Meistens läuteten um diese Zeit die Glocken der Hietzinger Kirche dreiviertel acht. Sie freute sich darauf, mit eiligem Schritt an den Kastanienbäumen und den darunter stehenden am Morgen unbesetzten Bänken vorbei zu gehen, gleichzeitig den Blick über das bunte Farbenspiel schweifen zu lassen, über das jetzt im Sommer der silberne Tropfenstrahl der Wasserbestäuber sprühte. Zwei Minuten höchstens und manchesmal bremsten sie dabei vor ihr Gehende mit ihrer Langsamkeit ein. Sie merkte dann immer Gereiztheit aus der Gegend ihres Herzens nach oben drängen. Das tat ihr leid. Obwohl sie schnell ausschritt, wollte sie doch in ungestörter Muße des Gemütes sich den Freuden dieses Büroweges hingeben.

Schon ehe sie um die Ecke durch das schmiedeiserne Tor bog, wurde alles anders. Dunkle Wolken verhängten das Tor. Wie Vorhänge, die sich unter einem Windstoß, der von hinten in sie hineinfährt, blähen. Die Farbe grau, schwarz. Dunkle Wolken, steil vom Himmel sich aufeinanderlagernd bis sie unten auf dem Kies auftrafen, der hier gestreut war und jedesmal Staubwolken erzeugte, wenn größere Menschengruppen darüber gingen. Sie erschrak und gleichzeitig war es ihr klar, daß nun das passierte, auf das sie immer gewartet hatte. Was das war, wußte sie nicht. Sie ging unbeirrt weiter, auf die Wolken zu, diese öffneten sich feucht und nahmen sie in sich auf.

Es war nun finster. Ihr erschien dies keineswegs so fürchterlich und überraschend, wie es vielleicht zu vermuten wäre. Sie hielte ihre kleine schwarze Aktentasche mit einem Buch, ihrer Geldbörse, dem Tagebuch, dem Taschentuch, dem Kamm, der grünen Mappe, in der sie sich "Privates" täglich ins Büro mitnahm und was sie sonst noch mit sich führte, fest in der linken Hand, spürte die Kühle des Wolkeninneren auf der nackten Haut ihrer Beine und unter den leichten Rock hochsteigen, auf den nackten Schultern und Armen, auf dem nackten Gesicht und im Haar. Nur kurz spürte sie noch den Kies unter ihren Fußsohlen, dann zog es sie hinauf. Der Magen sackte hinunter, sodaß sie ein flaues Gefühl erfaßte. "Ich denke mir", wurde ihr plötzlich klar, "daß ich jetzt..." Und schon vergaß sie wieder die kurze Einsicht über das Ziel dieser Reise. Denn es war eine Reise. Schon sauste ihr der Fahrtwind um die Ohren und die feuchte Luft teilte sich in viele kleine Perlen, die auf die Haut einstachen, als ob sie nicht rund, sondern nadelspitz wären. Ein dumpfer Windeston begleitete die Fahrt nach oben. Sie faßte den Griff ihrer Aktentasche noch fester, denn der plözliche Aufstieg zerrte ihr diese fast aus der Hand. Sie spürte, wie ihre Ohrstecker aus den Ohren gerissen wurden und schließlich eiskalte Arme ihre Oberschenkel umfaßten. Das zumindest bildete sie sich ein.

Bäume winkten in der Ferne. Riesige Baumkronen, ebenso losgelöst vom Erdboden wie sie. Grünes Laub, knorrige Äste darunter. Die Wurzeln schlenkerten um ihre Stammenden herum. "Träume ich?" fragte sie sich nun doch kurz. Das Emporsteigen erinnerte sie an den Flug durch die Wolken nach unten, von dem sie gestern abends im Bett gelesen hatte. Die schwarzen Wolken hatten sich mittlerweile gelichtet, und sie konnte über den gesamten Himmel sehen. Es war wunderbar. Ein Riesenregenbogen spannte sie von ihren Füßen bis zum anderen Ende des Horizontes. Wie der oft zitierte rote Teppich für Staatsgäste vom Flugzeug ins Flughafengebäude reicht. Allerdings wußte sie nicht, was am Ende lag, die Ankunft oder die Abfahrt.

Nach kurzem Zögern trat sie, zuerst vorsichtig, auf den schillernden, bunt gestreiften Regenbogen. Es war ein Gefühl ungeahnter Leichtigkeit und Freude, das sie sofort durchströmte. Der Grund unter ihren schwarzen Lacksandalen federte ein wenig und variierte in allen ihren Lieblingsfarben: rosa, pink, dunkelpurpur, fliederlila, stiefmütterchenviolett und türkis wie die Schattierungen des Meerwassers an felsigen Buchten. Die frischen Kronen der entwurzelten Bäume schwebten frei im weiten Himmelsraum herum, und bunte Vögel hatten sich darauf niedergelassen. Das Licht des Himmels war seidig und tief und strahlte von einer Quelle noch viel weiter oben, als sie selbst sich befand, aber auch von unten kam das helle leichte Licht. Tränen steigen ihr in die Augen, so bewegt weitete sich ihr Herz. Wie sonst, wenn Musik ihr besonders naheging oder ein rührendes Schicksal oder eine besonders feinfühlige Geste. Vorerst eilte sie dennoch mit ziemlich unverändert festem Schritt, zielbewußt und rasch, als ob sie ihren Büroweg weiterginge, über die ungewöhnliche Straße.
Der Regenbogen, gespannt von einer unsichtbaren Kraftquelle, federte unter jedem ihrer Schritte. Sie sank mit den Füßen bei jedem Schritt ein wenig ein, ähnlich wie auf einem gut geferdertem oder, besser noch, wie auf einem Wasserbett. Nach ein paar Schritten blieb sie daher stehen, legte die schwarze Aktentasche auf der glatten Regenbogenfläche ab und zog sich die Sandalen aus.

Als ihre nackten Füße die bunte Unterlage berührten, stieg eine angenehme Erregung an ihren Beinen hoch, und sie wunderte sich, wie weich, fedrig und doch fest sich der Regenbogen unterhalb ihrer Fußsohle, an ihrer Ferse, dem Rist, den Zehen anfühlte. Sie hatte die Tasche wieder aufnehmen wollen. Ihr Hirn hatte offensichtlich bis zu diesem Augenblick nicht registriert, daß sie sich nun einige Etagen zu hoch auf einer Bahn befand, die sie nicht auf direktem Weg und keinesfalls pünktlich an ihrer Arbeitsstelle abgeben würde. Es hatte so getan, als handelte es sich bei der Auffahrt im Wolkenlift und dem unermeßlichen Weitblick in den Himmelsraum und dem Regenbogen, der so verheißungsvoll weiter als bis zum Horizont zu führen schien, um eine zu übersehende Größe, um einen nicht berücksichtigenswerten Umweg, um ein kleines Hindernis, das ihre Zeitrechnung nicht mehr als wenige Minuten in Unordnung bringen würde. Als sie nun die pralle Fülle des Regenbogens spürte, bekam sie Lust, diese nicht nur mit den Fußsohlen zu fühlen. Sie vergaß ihre Aktentasche mit all den Utensilien, die sie zu brauchen geglaubt hatte, um ihren Arbeitstag angenehm zu machen. Sie vergaß ihre Schuhe. Ihr Hirn klickte. Und sie war nun nur mehr hier, als ob sie nie woandershin gehört hätte.

Sie sank auf die Knie, spürte das leicht reibende Gefühl auf ihren Unterschenkeln und Knien, das Seidenweiche und doch etwas Rauhe der Regenbogenoberfläche und blieb eine Weile so, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Eine Frau im schwarzweißen Bürokostüm aus Leinen, ihre weiße Perlenkette schimmerte im vollen Licht des Himmels. Von der Ferne war sie nicht auszunehmen. Ein winziger Tupfen auf dem horizonteüberspannenden Regenbogen. Aber in ihrem Inneren weitete sie sich und nahm den ganzen Himmelsraum in sich auf, die grezenlose Weite mit den in den Lüften torkelnden Bäumen. Sie wuchs und wuchs innerlich. Oder besser, die Leichtigkeit in ihr wuchs und wuchs. Es schien ihr, als würfe sie gleichzeitig alles, eines nach dem anderen, über den Rand des Regenbogens in den Himmel, was sie sonst drückte und plagte. Die Schichten Angst, die wie klebrige Schieferplatten ihr Herz blockierten, eine Schicht nach der anderen segelte davon. Die Bedrängnis durch die Regulative des Arbeitstages zerschmolz in ihr. Was wichtig gewesen war, löste sich auf.

Sie war so allein wie noch nie. Aber sie fühlte sich in keiner Weise einsam. Sie gehörte hierher. Alles gehörte ihr. Sie gehörte allem. Aber das Wort "gehören" paßte nicht. Da war nichts von "besitzen", oder "besitzen wollen" oder "besessen werden". Sie kniete in der weichen Elastizität einer meteorologischen Erscheinung, die immer schon die Fantasie der Menschen angeregt und den Schönheitssinn erregt hatte. Und war wohl glücklich.
Nach ein paar Augenblicken, jedenfalls nach einer nicht meßbaren Zeitspanne, spürte sie die süße Erregung jedes Fleckchens Haut, das mit dem Regenbogen in Berührung kam. Sie hob die Hände von ihren Oberschenkeln und berührte mit ihren Fingerspitzen den Regenbogen. Wie elektrische Funken glühte es ihre Adern hinauf und hinunter. Dann breitete sie die Hände aus und rieb leicht mit der Handinnenfläche auf dem seidigen Untergrund. Ihr ganzer Körper wurde daraufhin warm und die Erregung war süßer als vorher. Ohne zu überlegen, legte sie sich langsam hin, ganz ausgestreckt breitete sie sich auf den Regenbogen, der hoch über der städtischen Realität von Wien hing. Störend fühlte sie ihr Gewand. Sie wollte den Stoff nicht zwischen sich und der Süße spendenden Unterlage.

Nun fast ungeduldig öffnete sie einen nach dem anderen der kleinen Knöpfe mit dünnem Goldrand, schlüpfte aus der Jacke, die zugleich auch die Bluse war. Dann kniete sie sich nochmals hin und öffnete den Reißverschluß ihres Rockes. So wie die Aktentasche blieb ihr Kostüm ein noch kleineres schwarzes Pünktchen als sie selbst auf der weiten Regenbogenbrücke liegen. Sanft schwankte diese hohe Brücke unter ihr, vor ihr, hinter ihr. Aber sie fürchtete sich keineswegs. Nichts konnte ihr passieren. Sie streifte das beengende Uhrband ab, das eine ehemalige Taschenuhr ihres Ururgroßvaters zusammenhielt. Diese Uhr kollerte über den Rand des Regenbogens und sank langsam in die Tiefe. Nun war sie schon sehr viel freier. Sie schlüpfte nach kurzem Überlegen auch noch aus Hemd und Unterhose und zog die Kämme aus ihrem Haar.

Sie wollte nichts, aber auch nichts mehr an ihrem Körper haben, das sie bedrängte, angesichts dieser wunderbaren Weite und Leere in ihr. Leere von Ängsten, von Grenzen, von Regeln und Notwendigkeiten, die in diesem Augenblick nicht mehr existent waren. Verraucht, verrauscht, versunken, verloren. Egal. Ich will nicht im Detail die Süße dieser Erregung wiedergeben, in allen Phasen, die sie nun überkam. Sie mit dem großen Regenbogen allein lassen, unbeobachtet vom lieben Gott, der anscheinend endlich einmal woanders hin als auf sie schaute. Dieser schwere strenge Blick des lieben Gottes hatte sich gelüftet. Vielleicht, als sie nach oben gerissen wurde zu jenem Regenbogen, der jetzt, obwohl doch gleichmütig existent wie eh und je und vorher und nachher, ihr solches Entzücken schenkte. Verlassen wir diese Frau für eine Zeit. Wie lange, soll uns nicht interessieren. Die Zeit spielte für sie keine Rolle mehr.

Unterhalb, auf dem Erdboden, nahmen das Leben, der Alltag, die Geschäftigkeiten in ihrem Büro, auch ohne sie den gewohnten Lauf. Sie kam zwar nicht, wie meist verschwitzt, weil sie hastig den kleinen Berg, der zur Gloriette führte, heraufgestiegen war, am Zaun vor ihrer Arbeitsstätte an. Sie kam nicht an. Sie kam nicht. Sie blieb fern. Doch gleichgültig wie der Regenbogen sich aufbaut und erlischt ohne Zutun der Menschen, so saugte auch der Büroalltag dieses Faktum in sich auf. Man war ihr nicht böse. Man vermißte sie nicht. Man war auch nicht froh über ihre Abwesenheit. Es war nichts. Die Bäume vor ihrem Bürofenster wiegten leicht wie immer die Zweige und ihr Blattwerk, und die Computer auf ihrem Schreibtisch warteten gelassen in sicherer Überzeugung ihrer Wiederkehr.

Ruth Linhart, Juli 1991


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