Der Regenbogen
Jeden Morgen ging sie denselben Weg. Sie nahm die Untergrundbahn Nummer
vier, kaufte schnell, um nicht eine Minute zu spät zu kommen, bei der
Bäckerei eine Jause für die Mittagspause, überquerte dann die
Straße, vielbefahren, aber zum Zebrastreifen würde es zu weit zum
Gehen sein. In die knappe Zeitrechnung, die für den morgendlichen
Büroweg aufgestellt war, paßte das nicht mehr hinein. Die Parkmauer
entlang, sobald sie über Geleise und Sperrlinie und auf der anderen
Straßenseite auf den sicheren Gehsteig gestiegen war. Vorfreude auf das
Einschwenken in den Park, ohne Autoabgase und Autogeräusche. Grün die
Allee. Vorfreude auf den Schwenk um die Ecke, der dann den Blick öffnen
würde auf die Blumenrondelle, die breit lagernden Kuppeln des
Palmenhauses, die Umkränzung der Parkbäume um diesen bunten Blick und
auf den weiten Himmel mit den schöngestaltigen Wolken darüber.
Diese kurze Strecke nahm vielleicht zwei Minuten ihres Tages ein, wenn
übrhaupt. Vom Tritt auf die Gehsteigkante, von der Rechtswendung in die
Richtung entlang der Parkmauer bis zur Linkswendung beim schmiedeisernen
Parktor, am Parkwächter in seiner Koje aus Plastik und Plexiglas vorbei
und schließlich bis zur neuerlichen Rechtswendung, durch welche die heile
Welt des Schönbrunner Parkes in ihren Blick geriet. Meistens läuteten
um diese Zeit die Glocken der Hietzinger Kirche dreiviertel acht. Sie freute
sich darauf, mit eiligem Schritt an den Kastanienbäumen und den darunter
stehenden am Morgen unbesetzten Bänken vorbei zu gehen, gleichzeitig den
Blick über das bunte Farbenspiel schweifen zu lassen, über das jetzt
im Sommer der silberne Tropfenstrahl der Wasserbestäuber sprühte.
Zwei Minuten höchstens und manchesmal bremsten sie dabei vor ihr Gehende
mit ihrer Langsamkeit ein. Sie merkte dann immer Gereiztheit aus der Gegend
ihres Herzens nach oben drängen. Das tat ihr leid. Obwohl sie schnell
ausschritt, wollte sie doch in ungestörter Muße des Gemütes
sich den Freuden dieses Büroweges hingeben.
Schon ehe sie um die
Ecke durch das schmiedeiserne Tor bog, wurde alles anders. Dunkle Wolken
verhängten das Tor. Wie Vorhänge, die sich unter einem
Windstoß, der von hinten in sie hineinfährt, blähen. Die Farbe
grau, schwarz. Dunkle Wolken, steil vom Himmel sich aufeinanderlagernd bis sie
unten auf dem Kies auftrafen, der hier gestreut war und jedesmal Staubwolken
erzeugte, wenn größere Menschengruppen darüber gingen. Sie
erschrak und gleichzeitig war es ihr klar, daß nun das passierte, auf das
sie immer gewartet hatte. Was das war, wußte sie nicht. Sie ging unbeirrt
weiter, auf die Wolken zu, diese öffneten sich feucht und nahmen sie in
sich auf.
Es war nun finster. Ihr erschien dies keineswegs so
fürchterlich und überraschend, wie es vielleicht zu vermuten
wäre. Sie hielte ihre kleine schwarze Aktentasche mit einem Buch, ihrer
Geldbörse, dem Tagebuch, dem Taschentuch, dem Kamm, der grünen Mappe,
in der sie sich "Privates" täglich ins Büro mitnahm und was sie sonst
noch mit sich führte, fest in der linken Hand, spürte die Kühle
des Wolkeninneren auf der nackten Haut ihrer Beine und unter den leichten Rock
hochsteigen, auf den nackten Schultern und Armen, auf dem nackten Gesicht und
im Haar. Nur kurz spürte sie noch den Kies unter ihren Fußsohlen,
dann zog es sie hinauf. Der Magen sackte hinunter, sodaß sie ein flaues
Gefühl erfaßte. "Ich denke mir", wurde ihr plötzlich klar,
"daß ich jetzt..." Und schon vergaß sie wieder die kurze Einsicht
über das Ziel dieser Reise. Denn es war eine Reise. Schon sauste ihr der
Fahrtwind um die Ohren und die feuchte Luft teilte sich in viele kleine Perlen,
die auf die Haut einstachen, als ob sie nicht rund, sondern nadelspitz
wären. Ein dumpfer Windeston begleitete die Fahrt nach oben. Sie
faßte den Griff ihrer Aktentasche noch fester, denn der plözliche
Aufstieg zerrte ihr diese fast aus der Hand. Sie spürte, wie ihre
Ohrstecker aus den Ohren gerissen wurden und schließlich eiskalte Arme
ihre Oberschenkel umfaßten. Das zumindest bildete sie sich ein.
Bäume winkten in der Ferne. Riesige Baumkronen, ebenso
losgelöst vom Erdboden wie sie. Grünes Laub, knorrige Äste
darunter. Die Wurzeln schlenkerten um ihre Stammenden herum. "Träume ich?"
fragte sie sich nun doch kurz. Das Emporsteigen erinnerte sie an den Flug durch
die Wolken nach unten, von dem sie gestern abends im Bett gelesen hatte. Die
schwarzen Wolken hatten sich mittlerweile gelichtet, und sie konnte über
den gesamten Himmel sehen. Es war wunderbar. Ein Riesenregenbogen spannte sie
von ihren Füßen bis zum anderen Ende des Horizontes. Wie der oft
zitierte rote Teppich für Staatsgäste vom Flugzeug ins
Flughafengebäude reicht. Allerdings wußte sie nicht, was am Ende
lag, die Ankunft oder die Abfahrt.
Nach kurzem Zögern trat sie,
zuerst vorsichtig, auf den schillernden, bunt gestreiften Regenbogen. Es war
ein Gefühl ungeahnter Leichtigkeit und Freude, das sie sofort
durchströmte. Der Grund unter ihren schwarzen Lacksandalen federte ein
wenig und variierte in allen ihren Lieblingsfarben: rosa, pink, dunkelpurpur,
fliederlila, stiefmütterchenviolett und türkis wie die Schattierungen
des Meerwassers an felsigen Buchten. Die frischen Kronen der entwurzelten
Bäume schwebten frei im weiten Himmelsraum herum, und bunte Vögel
hatten sich darauf niedergelassen. Das Licht des Himmels war seidig und tief
und strahlte von einer Quelle noch viel weiter oben, als sie selbst sich
befand, aber auch von unten kam das helle leichte Licht. Tränen steigen
ihr in die Augen, so bewegt weitete sich ihr Herz. Wie sonst, wenn Musik ihr
besonders naheging oder ein rührendes Schicksal oder eine besonders
feinfühlige Geste. Vorerst eilte sie dennoch mit ziemlich unverändert
festem Schritt, zielbewußt und rasch, als ob sie ihren Büroweg
weiterginge, über die ungewöhnliche Straße.
Der Regenbogen,
gespannt von einer unsichtbaren Kraftquelle, federte unter jedem ihrer
Schritte. Sie sank mit den Füßen bei jedem Schritt ein wenig ein,
ähnlich wie auf einem gut geferdertem oder, besser noch, wie auf einem
Wasserbett. Nach ein paar Schritten blieb sie daher stehen, legte die schwarze
Aktentasche auf der glatten Regenbogenfläche ab und zog sich die Sandalen
aus.
Als ihre nackten Füße die bunte Unterlage
berührten, stieg eine angenehme Erregung an ihren Beinen hoch, und sie
wunderte sich, wie weich, fedrig und doch fest sich der Regenbogen unterhalb
ihrer Fußsohle, an ihrer Ferse, dem Rist, den Zehen anfühlte. Sie
hatte die Tasche wieder aufnehmen wollen. Ihr Hirn hatte offensichtlich bis zu
diesem Augenblick nicht registriert, daß sie sich nun einige Etagen zu
hoch auf einer Bahn befand, die sie nicht auf direktem Weg und keinesfalls
pünktlich an ihrer Arbeitsstelle abgeben würde. Es hatte so getan,
als handelte es sich bei der Auffahrt im Wolkenlift und dem unermeßlichen
Weitblick in den Himmelsraum und dem Regenbogen, der so verheißungsvoll
weiter als bis zum Horizont zu führen schien, um eine zu übersehende
Größe, um einen nicht berücksichtigenswerten Umweg, um ein
kleines Hindernis, das ihre Zeitrechnung nicht mehr als wenige Minuten in
Unordnung bringen würde. Als sie nun die pralle Fülle des Regenbogens
spürte, bekam sie Lust, diese nicht nur mit den Fußsohlen zu
fühlen. Sie vergaß ihre Aktentasche mit all den Utensilien, die sie
zu brauchen geglaubt hatte, um ihren Arbeitstag angenehm zu machen. Sie
vergaß ihre Schuhe. Ihr Hirn klickte. Und sie war nun nur mehr hier, als
ob sie nie woandershin gehört hätte.
Sie sank auf die Knie,
spürte das leicht reibende Gefühl auf ihren Unterschenkeln und Knien,
das Seidenweiche und doch etwas Rauhe der Regenbogenoberfläche und blieb
eine Weile so, die Hände auf die Oberschenkel gestützt. Eine Frau im
schwarzweißen Bürokostüm aus Leinen, ihre weiße
Perlenkette schimmerte im vollen Licht des Himmels. Von der Ferne war sie nicht
auszunehmen. Ein winziger Tupfen auf dem horizonteüberspannenden
Regenbogen. Aber in ihrem Inneren weitete sie sich und nahm den ganzen
Himmelsraum in sich auf, die grezenlose Weite mit den in den Lüften
torkelnden Bäumen. Sie wuchs und wuchs innerlich. Oder besser, die
Leichtigkeit in ihr wuchs und wuchs. Es schien ihr, als würfe sie
gleichzeitig alles, eines nach dem anderen, über den Rand des Regenbogens
in den Himmel, was sie sonst drückte und plagte. Die Schichten Angst, die
wie klebrige Schieferplatten ihr Herz blockierten, eine Schicht nach der
anderen segelte davon. Die Bedrängnis durch die Regulative des
Arbeitstages zerschmolz in ihr. Was wichtig gewesen war, löste sich auf.
Sie war so allein wie noch nie. Aber sie fühlte sich in keiner
Weise einsam. Sie gehörte hierher. Alles gehörte ihr. Sie
gehörte allem. Aber das Wort "gehören" paßte nicht. Da war
nichts von "besitzen", oder "besitzen wollen" oder "besessen werden". Sie
kniete in der weichen Elastizität einer meteorologischen Erscheinung, die
immer schon die Fantasie der Menschen angeregt und den Schönheitssinn
erregt hatte. Und war wohl glücklich.
Nach ein paar Augenblicken,
jedenfalls nach einer nicht meßbaren Zeitspanne, spürte sie die
süße Erregung jedes Fleckchens Haut, das mit dem Regenbogen in
Berührung kam. Sie hob die Hände von ihren Oberschenkeln und
berührte mit ihren Fingerspitzen den Regenbogen. Wie elektrische Funken
glühte es ihre Adern hinauf und hinunter. Dann breitete sie die Hände
aus und rieb leicht mit der Handinnenfläche auf dem seidigen Untergrund.
Ihr ganzer Körper wurde daraufhin warm und die Erregung war
süßer als vorher. Ohne zu überlegen, legte sie sich langsam
hin, ganz ausgestreckt breitete sie sich auf den Regenbogen, der hoch über
der städtischen Realität von Wien hing. Störend fühlte sie
ihr Gewand. Sie wollte den Stoff nicht zwischen sich und der Süße
spendenden Unterlage.
Nun fast ungeduldig öffnete sie einen nach
dem anderen der kleinen Knöpfe mit dünnem Goldrand, schlüpfte
aus der Jacke, die zugleich auch die Bluse war. Dann kniete sie sich nochmals
hin und öffnete den Reißverschluß ihres Rockes. So wie die
Aktentasche blieb ihr Kostüm ein noch kleineres schwarzes Pünktchen
als sie selbst auf der weiten Regenbogenbrücke liegen. Sanft schwankte
diese hohe Brücke unter ihr, vor ihr, hinter ihr. Aber sie fürchtete
sich keineswegs. Nichts konnte ihr passieren. Sie streifte das beengende
Uhrband ab, das eine ehemalige Taschenuhr ihres Ururgroßvaters
zusammenhielt. Diese Uhr kollerte über den Rand des Regenbogens und sank
langsam in die Tiefe. Nun war sie schon sehr viel freier. Sie schlüpfte
nach kurzem Überlegen auch noch aus Hemd und Unterhose und zog die
Kämme aus ihrem Haar.
Sie wollte nichts, aber auch nichts mehr an
ihrem Körper haben, das sie bedrängte, angesichts dieser wunderbaren
Weite und Leere in ihr. Leere von Ängsten, von Grenzen, von Regeln und
Notwendigkeiten, die in diesem Augenblick nicht mehr existent waren. Verraucht,
verrauscht, versunken, verloren. Egal. Ich will nicht im Detail die
Süße dieser Erregung wiedergeben, in allen Phasen, die sie nun
überkam. Sie mit dem großen Regenbogen allein lassen, unbeobachtet
vom lieben Gott, der anscheinend endlich einmal woanders hin als auf sie
schaute. Dieser schwere strenge Blick des lieben Gottes hatte sich
gelüftet. Vielleicht, als sie nach oben gerissen wurde zu jenem
Regenbogen, der jetzt, obwohl doch gleichmütig existent wie eh und je und
vorher und nachher, ihr solches Entzücken schenkte. Verlassen wir diese
Frau für eine Zeit. Wie lange, soll uns nicht interessieren. Die Zeit
spielte für sie keine Rolle mehr.
Unterhalb, auf dem Erdboden,
nahmen das Leben, der Alltag, die Geschäftigkeiten in ihrem Büro,
auch ohne sie den gewohnten Lauf. Sie kam zwar nicht, wie meist verschwitzt,
weil sie hastig den kleinen Berg, der zur Gloriette führte,
heraufgestiegen war, am Zaun vor ihrer Arbeitsstätte an. Sie kam nicht an.
Sie kam nicht. Sie blieb fern. Doch gleichgültig wie der Regenbogen sich
aufbaut und erlischt ohne Zutun der Menschen, so saugte auch der
Büroalltag dieses Faktum in sich auf. Man war ihr nicht böse. Man
vermißte sie nicht. Man war auch nicht froh über ihre Abwesenheit.
Es war nichts. Die Bäume vor ihrem Bürofenster wiegten leicht wie
immer die Zweige und ihr Blattwerk, und die Computer auf ihrem Schreibtisch
warteten gelassen in sicherer Überzeugung ihrer Wiederkehr.
Ruth
Linhart, Juli 1991
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