Ruth Linhart | Texte


Die ekelhafte Schlange in meinem dritten Auge


Tatsächlich habe ich seit Jahren keinen Text mehr geschrieben. Einen Text, etwas Literarisches, etwas, das mit Inspiration und Intuition zu tun hat. Ein Text entsteht, wenn ich mich schreiben lasse. Auf einmal hat das begonnen, was vielleicht Schreibhemmung heißt. Obwohl ich in diesen Jahren viel geschrieben habe, nicht nur Tagebuch, sondern auch professionell, viel und oft. Aber das bin ja nicht ich. Die Öffentlicheitsarbeiterin der FAnstalt. Das bin nicht ich. Zweimal vielleicht habe ich in diesen Jahren als ich geschrieben. Einen Artikel über Schnee in der japanischen Literatur und einmal über junge Mütter in Japan für die Welt der Frau. Das ist eine katholische Zeitung. Dort fand ich als Schreibnachbarin N. H., die früher manchmal Schreibnachbarin in der sozialdemokratischen Frau war, aber meistens in linkeren Blättern schrieb.

Was ist das für ein Wetterbericht, den ich jetzt schreiben kann, wenn ich mich schreiben lasse. Ich hab mir das erlaubt, ich habe mir sogar zugeredet. Du darfst dich heute an den Computer setzen und schreiben, was dir einfällt. Es gibt ein zwar ein Thema. Wetterberichte heißt es. B. N. hat angefragt. Sie erinnert sich noch an dich. Nütze die Gelegenheit, daß jemand sich noch an dich erinnert. An dich. Nicht an die Öffentlichkeitsarbeiterin der FAnstalt. Sie erinnert sich an dich. Sie erinnert sich an mich. Wenige erinnern sich an mich. Nicht einmal ich erinnere mich oft an mich. Jetzt, wo mir die Tränen in die Augen steigen – ein Reflex, den ich ironisch zu betrachten habe und eine Bemerkung, die ich später aus dem Text zu streichen habe – erinnere ich mich an meine Geschichte Frühstücke. Während der ersten Therapie. Ich erlaubte mir zu schreiben, was mir einfiel. Vielleicht war es der erste Text dieser Art.
Vertrockne ich? Ist Trockenheit, Auszehrung, Verdunstung die meteorologische Situation? Mein Wetterbericht. Oder viel mehr als ein Wetterbericht, die Charakterisierung einer jahrelangen klimatischen Situation. Es scheint mir, als ginge ich auf Sand, der unter mir wegrutscht. Eher als auf Eis, das unter mir wegschmelzen könnte. Auf Sand zu gehen ist mir angenehmer als auf Eis. Warum eigentlich. Natürlich könnte ich auch im aufgewirbelten Sand ersticken. Sand kann sein wie eine Lawine. Wie Lawinen wirken, weiß ich genau. Vielleicht ist auch Sand gefährlich Ich gehe auf Sand. Es ist dunstig. Nur braungelb ist die Farbe, die mich umgibt. Es fehlt die Exotik der Wüste. Die Augen sind trocken.
Es ist heiß. Wind kommt auf. Dieses eigenartige Wetter, wenn das Gehirn sich vernebelt und klare Gedanken abhanden kommen. Ich sehe nichts, ich kann nichts beurteilen, ich kann nichts beschreiben. Die Welt ist flach und hat keine Tiefe. Und meine Gefühle sind ebenso flau. Unergiebig. Ich darf schreiben. Ich möchte schreiben. Aber ich möchte etwas schreiben, das zumindest ich gut finde, wenn ich es nachher lese. Oder etwas, das mir selbst eine Offenbarung ist. Zumindest einen Ausweg zeigt.

Ausweg? Brauche ich einen Ausweg? Ich möchte etwas schreiben, das mir einen Weg zeigt. In der Wüste verweht aber doch jeder Weg sofort, besonders wenn dieser unangenehme heiße Wind weht. Ich sollte mich zusammennehmen. Was will ich schreiben? Einen Wetterbericht. Nein, ich sollte nicht belanglos über das Wetter schreiben, sondern in diesem Sandknirschen etwas Lebendiges suchen. Mich als Schreiberin von mehr als PR-Texten für die FAnstalt. Gibt es diese Person? Oder ist das eine vergebliche Hoffnung, die sogenannte Lebenslüge, die der kleine Takuboku mit 25 Jahren kurz bevor er an Tuberkulose starb schon erkannt hat. Sie müssen wissen, Takuboku ist der japanische Dichter, über den ich eine Dissertation geschrieben habe. Sie müssen wissen, ich bin viel mehr als Sie glauben. Ich glaube, ich bin mehr als Sie glauben, daß ich bin. Ich glaube, daß ich viele Dimensionen habe und das Pech, daß immer nur eine gesehen wird. Ich glaube, daß in mir viel mehr ist, als nach außen dringt. Ich glaube, daß ich zunehmend weniger Energie habe, um mehr als eine dieser Dimensionen zu zeigen, die in mir sind. Könnte es sein, daß ich an Selbstüberschätzung kranke.
Gegenüber auf dem First des Daches gehen Männer und schauen irgendwo hinunter. Ich sehe nicht, was sie sehen. Aber sie bringen mich aus der Konzentration. Sie sind mir unangenehm. Schau einmal in dich hinein. Vielleicht das angenehmer? Sand, der knirscht. Sand im Getriebe. Aber nein. Oder doch. Das Getriebe läuft nicht optimal. Aber das ist mehr ein Wetterbericht des Kopfes. Wie schaut es in dir aus? In dir. Was ist das für ein Ort. Der Kopf ist ja wohl auch in mir. Nein, es sind tiefere Gefilde. Da zucken Blitze. Da ist es schwarz. Da ist es so violettgrauschwarz, ein Gewitterdunkel, kein nächtliches Dunkel. Beige wie Sand und violettgrauschwarz wie ein Gewitterhimmel. Und ab und zu oder ständig? – zuckt ein elektrischer Funken.
Ich mache jetzt wieder eine Therapie. Weil mir die Kraft abhanden gekommen ist. Ich mußte die Augen schließen, mich entspannen, mich auf meine Chakren konzentrieren und Tiere sehen. Ich sah sogar welche. Zuerst wollten sie sich nicht recht zeigen, aber sie kamen dann doch. Ein Reiher, ein Frosch, ein Eisbär, noch ein Frosch, ein Gorilla, ein riesiger schwarzer Gorilla mit fletschenden Zähnen, im Herzchakra. Zuerst fürchtete ich mich vor diesem schwarzen Riesentier, aber die Therapeutin sagte, Gorillas sind zärtlich. Ich soll nicht vergessen, der Gorilla wird mich beschützen. Ich glaubte ihr, wie ein Kind, das die Mutter an der Hand hält. Im dritten Auge saß dann die widerliche Schlange.
Diese Schlange, die den Platz ausfüllt, der meiner Intuition gehören sollte. Zentrale Themen: Weisheit, Phantasie, außersinnliche Wahrnehmung, individuelles Bewußtsein, Seinserkenntnis, die Frage nach der Rolle im Leben, Spiritualität. Stattdem sitzt dort diese Schlange. Das heißt, irgendwie gelang es mir, sie herauszulocken, denn ich hätte die Sitzung bei der Therapeutin nicht abschließen können, wenn sie in meiner Stirn sitzen geblieben wäre. Sie ringelt sich fest zusammen in einem hohlen Baum und ab und zu fährt sie heraus, zischt, züngelt, sodaß die anderen Tiere erschrecken, die vor dem Baum herumwarten, bis ich die nächste Sitzung bei der Therapeutin habe. Der Reiher flattert, die Frösche hüpfen in Sicherheit, der kleine Eisbär stellt sein weiches Fell auf und flüchtet zum Gorilla. Der fletscht die Zähne, grunzt, rollt mit den Augen, die Schlange fürchtet sich, zieht sich zurück, rollt sich wieder fest zusammen, ganz hinten in den Schatten ihrer Baumhöhle gedrängt. Wofür ist mein Gorilla zuständig – für bedingungslose Liebe und Akzeptanz, menschliche Beziehungen, Geben, Offenheit. Die Schlange verbarrikadiert mir in Wirklichkeit noch immer das Gehirn. Oder ist da nicht mehr? Phantasie. Außersinnliche Wahrnehmung. Frage nach der Rolle im Leben.
Warum fällt mir immer nur Wüste ein, Sand und das Knirschen von Sand unter den Sandalen. Ein verhangener grauer Himmel, vom Sand. Das ist doch gar nicht mein Leben. Das bin doch gar nicht ich. Die fette Schlange in meinem dritten Auge. Sie ist eigentlich nicht grau. Sondern schimmert grünlich wie die Aeskulapnatter im Schönbrunner Schloßpark, im Sommer, wenn sie sich auf dem schattigen Weg versteinert bevor sie wie ein Wasserstrahl in das tiefe Gebüsch entgleitet. Meine Schlange ist viel größer. Ich sehe nur den Kopf, der aus meinem dritten Auge herausragt. Handtellergroß. So groß, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie diese Schlange in dem Raum zwischen den Augen in der Stirn Platz haben kann. Ohne ihn zu sprengen. Aber ich kann mir ja nicht einmal vorstellen, daß ein erigierter Penis in meinem Bauch Platz hat. Da muß mehr Platz drinnen sein, als es von draußen ausschaut.
Wohin will ich eigentlich in meiner Plauderei? Zu einer Geschichte. Zu einer Erkenntnis. Zu einem Licht, zu mehr Farbe. Zu einem Trost. Mädchen, du bist 56 Jahre alt. Aber du bist noch keine ausgetrocknete Ödnis. Du bist keine von Sand knirschende Wüste. Du bist nicht ein von Sandpartikeln verhangener Tag. Du kannst noch mehr als dir den Sand in die Augen zu reiben, sodaß sie tränen. Ich möchte, daß der Druck im dritten Auge aufhört. Daß die violettschwarzgraue Dunkelheit im Herz verschwindet. Daß ich an ein Wasser komme. Ein blaugrünes Wasser, ein riesiges Wasser, aber ich möchte nicht in diesem Wasser ertrinken. Ich möchte, daß der Himmel ein Sternenhimmel wird, aber ich möchte nicht in diesen Himmel hinunterstürzen. Ich möchte Texte schreiben, die poetisch sind und politisch relevant. Ich lächle, spöttisch.
56 Jahre hat schon den Beigeschmack von Sandwüste und knirschenden Sandalen. Was du bis jetzt nicht geschafft hast, das schaffst du nimmermehr. Das Wetter bleibt so braunverhangen. Die fette Schlange versitzt dir den Ausgang zur Fantasie. Und nicht einmal zur PR für die FAnstalt hast du Kraft. Ich glaube, jetzt reicht es. Weißt du nicht, daß die weisen Frauen nicht 25 sind. Zeitlos. Ob ihre Oberschenkel schlaff sind oder ihre Beine voll Krampfadern – hat jemals jemand danach gefragt? Es gibt schon eine Rolle für die älteren Frauen. Diese Männer auf meiner Augenhöhe am First gegenüber stören mich. Jetzt sind sie endlich weg. Ein Abendrot entsteht, das den ganzen Himmel überzieht. Vielleicht ist es auch ein Morgenrot. Der Himmel glitzert von Sternen. Wellen plätschern an einen Strand. Ich setzte mich hin, auf den Sand, ziehe die Sandalen von den Füßen und tauche mit den Zehen in das grünblaue Wasser.

Ich mache das Wetter, so ist es doch. Ich lasse mir das trübe sandige Wetter nicht gefallen, und es steigt ein rosa-orange-grüner Morgenhimmel auf, in dem die silberne Mondsichel und rechts oben von ihr zwei helle Sterne schimmern. Es war trocken und jetzt ist das Wasser da. Die Schlange saß mir im dritten Auge und jetzt lagert sie neben mir und ich könnte sie sogar streicheln, ich bin mir sicher, sie tut mir nichts. Außen kannst du aber nichts ändern mit deiner Schreiberei, meine Liebe. Der braunverhangene Horizont der realen politischen Situation wird dich noch eine Weile niederdrücken. Einkehr in die innere Emigration. Zwei Wettersysteme. Oder das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Oder tauche zuerst deine Zehen in das muschelduftende Wasser, dann wird auch die Kraft kommen, den braunen Dunst zu ertragen. Ertragen ist aber zu wenig. Ich weiß nicht. Es ist angenehm, die 56 Jahre beiseite zu argumentieren. Es ist so erleichternd, statt trister Wetterverhältnisse einen durchsichtig verheißungsvollen Himmel zu erschreiben.
Ich ergebe mich der Versuchung, die inneren Tiere um mich zu scharen: Reiher, Wurzelchakra, Mutter (warum, ich wehre ab), Überleben, Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen, Standfestigkeit, Geld, Zuhause, Beruf. Schade, daß mein Reiher so undeutlich ist, so zerfleddert. Aber es ist doch meiner. Komm nur her zu mir. Ein kleiner Frosch, so undeutlich - Sexualität, Körperbewußtsein, Nahrung, Elternschaft, Partnerschaft, Lebendigkeit, Lebensfreude, alle Emotionen außer Aggressionen. Ein kleiner Frosch könnte ein schöner Prinz werden, es gibt doch so ein Märchen. Nur – ich brauche keinen schönen Prinzen mehr. Weiter zum flauschigen Eisbärbaby - Persönlicheitsebene, Verstand, Denken, Freiheit, Macht, Kontrolle, Selbstwertgefühl, Abgrenzung, Aggression - eine ziemliche Diskrepanz.
Nur mein Gorilla paßt. Herzchakra. Du bist viel größer als ich es mir vorgestellt habe. Der nächste Frosch, der mir im Hals gesessen ist, hat mehr Fasson als der Sexualitätsfrosch unter dem Nabel – Kommunikation, Inspiration, Selbstausdruck, Annehmen, Wahrnehmen für Fülle und Überfluß. Gut Schlange, dich habe ich schon besprochen. Jetzt noch der angsterfüllte und vielleicht doch weise schwarze Kater, mein Zorro, den ich bisher am besten gekannt habe – du sitzt mir am Scheitel – Vater (erstaunlich), Seelenebene, Einheit, universelles Bewußtsein, Religiosität. Ich distanzierte mich ironisch von den esoterischen Phantasien. Die Therapeutin meinte, das sei keine Esoterik, das seien Begriffe aus der Medizin, chinesische oder indianische Weisheit, der direkte Zugang zu den tiefsten Ebenen. Was auch immer. Ihr Tiere gehört anscheinend zu mir. Bleibt ein bißchen bei mir an diesem ruhigen Strand. Wir sind hier ganz allein. Wir brauchen uns auch nicht zu fürchten, es kann nichts passieren. Wir befinden uns ja in der Phantasie. Sand, Staub, Gewitter, Blitze, Wind, alles hat sich verzogen, so einfach geht das, wen ich ein bißchen in die Tasten klappere. Das Wasser säuselt sanft heran. Die Zehen sind naß. Vielleicht schwimme ich hinaus – nein, das nicht. Ich will den Grund unter dem Wasser sehen. Nur schade, daß Frau Riess-Passer noch immer im Radio spricht.

Ruth Linhart, Podium 121/122 Thema: Wetterbericht, Oktober 2001, S. 96-100


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