Wien 25. Juni Meine derzeitige
"Arbeitshypothese": Die emotionalen Bindungen von Frauen sind in Japan anders
ausgerichtet als im Westen. Nicht die Männer sind Objekt, sondern die
Eltern bzw. die Kinder. Die Blutsverwandtschaft ist der emotional entscheidende
Bereich. Der Mann ist Mittel zur Existenzsicherung. Das würde den
vergleichsweise geringen Aufruhr durch die sogenannte sexuelle Befreiung
erklären. Allerdings mischt derzeit die westliche Vorstellung, daß
der Mann das Hauptliebesobjekt ist, mit. Das hieße: Die Frauen sind
emotionell nicht unabhängig, sondern anders abhängig. Will sich eine
Frau befreien, muß sie sich eher vom Zwang zur Mutterschaft als vom Zwang
zur Ehe befreien.
22. Juli: Konformitätsdruck. Ich erlebe den
subtil eisernen Druck durch das Netz weitgespannter Verbindlichkeiten bei der
Interview-Vorbereitung. Ich habe eine Freundin gebeten, mir zu helfen,
Interview-Partnerinnen zu finden. Sie hat die Sache zu ihrer eigenen gemacht.
Das von ihr vorgeschlagene Gespräch mit einer Animierdame in einem
Nachtklub habe ich jedoch abgelehnt, nicht zuletzt, weil ich den Abend für
alle Beteiligten - und ich kann dorthin nicht alleine gehen - bezahlen
müßte, mindestens öS 3000 - 4000! Um ½ 1 Uhr nachts ruft
mich die Freundin aus Japan an: "Bitte, machen Sie doch dieses Interview, denn
der Vorgesetzte einer Bekannten hat es arrangiert." Der Druck passiert ohne
Drohung, nur mit Hinweis auf die Peinlichkeit für andere. Diesem Druck,
verbunden mit dem Gefühl, zur Dankbarkeit verpflichtet zu sein, kann auch
ich, eine Ausländerin, nicht standhalten. Ich befürchte, daß
ich der Freundin in Zukunft nicht mehr ins Gesicht sehen kann, nachdem ich sie
einer Situation ausgesetzt habe, daß sie ihrer Bekannten nicht mehr ins
Gesicht sehen kann, weil diese ihrem Vorgesetzten nicht mehr ins Gesicht sehen
kann... Eine teuflische Spirale!
24. Juli Ich fliege zwischen Wien und
Moskau. Ich kann es jetzt ganz gut verstehen, wie Japanerinnen auf einmal
verheiratet sind, obwohl sie es gar nicht wollen. Die Hilfsbereitschaft ist
so groß, daß jede Minute in Japan bereits im vorhinein für
mich eingeteilt ist - wenn ich mich nicht vehement dagegen wehre, was wiederum
äußerst unhöflich ist! Es ist mir auch mitgeteilt worden, was
ich wo zu bezahlen habe, wobei es hervorgehoben wird, wenn mir trotz einer
Verpflichtung meinerseits eine Bezahlung erlassen wird. Meine
Schuldgefühle (oder Schamgefühle - mir fällt es schwer,
dazwischen zu unterscheiden) werden permanent auf Glut gehalten. Die
Interview-Partnerinnen selbst wissen nichts davon, die hilfsbereiten
Freundinnen haben nichts davon. Ich bin überzeugt, daß dieser
Vorgang völlig automatisiert abläuft und im Bewußtsein, das
Beste für mich zu tun - was wahrscheinlich sogar stimmt, nur ist das
Gefühl der "Bevormundung" schwer auszuhalten.
25. Juli Im Zug, dem Shinkansen-Express, zwischen
Tôkyô und Kyôto. Das grüne Japan. Reisfelder und
Teepflanzungen und immer näher rückend die Berge. Aber der Blick zur
Küste hin ist grausam. Die Landschaft ist zerstört. Ein Fluß,
eine rote Brücke, ein Friedhof, Bambus gegen die Berge, am Meer eine
scheußliche Fabriksanalage. Schlote, Qualm. Eine Familie im Zug: Papa
sitzt mit Kind in einer Reihe, Mama mit Kind in der nächsten. Papa und
Mama sprechen nicht miteinander.
27. Juli, Kyôto Am Vormittag bei der
Rechtsanwältin Matsuo, nachmittags Interview mit den "Sanyô-Frauen"
- Teilzeitarbeiterinnen, die fristlos entlassen wurden, weil sie im Gegensatz
zu den fest Angestellten (seishain) keinen sozialen Schutz haben. Diese
Frauen gingen zu Gericht und kämpfen mit Unterstützung von
Gewerkschaft und Rechtsanwälten nicht nur gegen die Kündigungen,
sondern auch um die Anerkennung ihrer Tätigkeit als gleichwertig mit jener
der Angestellten. Denn das ist das grundlegende Problem: Sie machen dieselbe
Arbeit unter anderen sozialen und finanziellen Bedingungen! Drei der
betroffenen Frauen waren da, ein Rechtsanwalt, die Rechtsanwältin, in
deren Büro das Interview stattfand. Wenn die drei Frauen sprachen,
verstand ich "Bahnhof". Sie redeten im Ôsaka-Dialekt, noch dazu der erste
Interview-Tag, und ich war sehr müde. Soviel ich verstanden habe, wurden
die entlassenen Frauen von der Firma unter enormen Druck gesetzt, an dem Kampf
nicht teilzunehmen, zum Beispiel wurde zu Hause angerufen, daß die
Tochter keine Arbeit finden würde oder keinen Ehemann. Der Rechtsanwalt
sagte kein Wort.
28. Juli Nach elf Uhr nachts. Heimfahrt von
Ôsaka nach Kyôto. Das Programm war monströs, bei drei Terminen
die verschiedensten Menschen: Vormittags Ikuno-gakuen, ein Haus für
Frauen in Not. Dann mit dem Zug nach Kôbe. Eine Stadt in herrlicher
Lage. Wir besuchen das Ehepaar U. Herr U. holte uns vom Bahnhof ab, mit einem
kleinen Bus, Spitzendeckchen über den Polstern. Er fuhr halsbrecherisch
durch schmale Gäßchen mit Abwasserrinnen zwischen den kleinen
Häusern. Wo er, seine Frau und seine zwei Kinder wohnen, war es
hübsch, aber alles so klein wie bei Tucholsky: "Und in Japan ist alles so
klein!" Das erste Interview in einer Privatwohnung. Die Stimmung ist anfangs
sehr befangen, später lockert das Ehepaar etwas auf. Die Kinder ihrerseits
sind eher überdreht angesichts der Gäste. Das Interview wurde
vereinbart, weil Naoki U., 41, einer der wenigen Männer in Japan ist, der
Kinderbetreuungszeit in Anspruch nimmt. Hisayo U., 39, ist Krankenschwester in
einem Spital für behinderte Kinder. Das Paar hat zwei Söhne, 8 und 4
Jahre alt. Der Ehemann arbeitet in einem Verlag. Wie er erzählt, sind in
Japan in Verlagen die sozialen Regelungen im allgemeinen fortschrittlich. Die
Firmengewerkschaft hat durchgesetzt, daß Eltern von Kindern bis zum
Volkschulalter pro Tag eine Stunde Kindererziehungszeit nehmen können
(ikuji-jikan). Er bringt also den kleineren Sohn in den Kindergarten und
fährt dann in die Arbeit nach Ôsaka. Für Frauen ist
Kinderbetreuungszeit bis 2 Stunden in vielen Betrieben üblich, für
Männer fast nie möglich. Allerdings wird Herrn U. 20% des
Stundenlohns abgezogen! Die Regelungen sind je nach Betrieb völlig
verschieden. Die sozialen Leistungen werden in Japan zum Großteil von den
Firmen selbst finanziert. In Frau U.'s Betrieb gibt es Kinderbetreuungszeit nur
für Frauen. Sie hat den Mutterschutzurlaub, acht Wochen vor und acht
Wochen nach der Geburt, in Anspruch genommen. Naoki U. hat sich das Recht auf
Kinderbetreuungszeit für Männer praktisch selbst, als Funktionär
der Firmengewerkschaft, erstritten. Er und seine Frau lernten einander vor 15
Jahren in der linken Studentenbewegung kennen. Es war für beide klar,
daß Hausarbeit nicht Frauenarbeit ist und auch in der Ehepraxis wird
Aufgabenteilung praktiziert: Beide kochen oft mit einem Buch in der Hand, sagen
sie. Nähen könne sie schneller. Aber die Buben sollten alles lernen.
Sie erzählen, daß sie trotz vieler gemeinsamer Interessen kaum
mehr Zeit für Gespräche haben, denn die Frau hat Schichtdienst, zwei
kleine Kinder und lange Fahrten an den Arbeitsplatz. Die Kommunikation betrifft
Notwendiges und Alltägliches. Zeit ist knapp, und die Müdigkeit nach
allen Verpflichtungen überwiegt jedes andere Bedürfnis. Seit 21.
Juli sind Schulferien, bis Ende August. In den nächsten Tagen plant die
Familie eine kurze Reise, vier Tage. Das ist der heurige Urlaub. Dann
zurück nach Ôsaka, wo wir um sechs Uhr mit Frauen der Kitaku no kai
(Studiengruppe zum Internationalen Jahr der Frau, Bezirk Kita) verabredet sind.
Um neun Uhr ist dort ziemlich hektischer Aufbruch. Frau O., die mich heute
begleitet hat, nimmt mich noch in eine Sushi-Bar mit, wo wir rohen Fisch essen
und Bier trinken.
29. Juli Nachts, ich fahre mit dem
Shinkansen-Express von Hamamatsu nach Kyôto zurück. In Hamamatsu
habe ich mit Frau Imai die Übersetzung des Fragebogens für die
geplante Befragung an Oberschul-Absolventinnen durchbesprochen. Vormittags in
Ôsaka Interview mit JAL-Direktorin Sachiko K.. Es ist 21.15 Uhr und ich
bin die einzige Frau im Waggon. Lauter Männer, die von der Arbeit nach
Hause fahren! Ich habe das Horrorbild, daß alle Männer auf einmal
über mich als feindliche und provozierende Frau - noch dazu
Ausländerin - herfallen. Würde mich einer von diesen heimfahrenden
müden Männern beschützen? In der Nacht schauen die
Städte, die draußen vorbeiziehen, fantastisch aus. Man sieht nur die
Lichter und hört natürlich aus dem Zug keinen Laut von dem Lärm,
der dort herrscht. Als ich vor dem Bahnhof von Hamamatsu auf Frau Imai
wartete, redete mich eine eher derb wirkende Frau aus Ôsaka an. Mit ihren
fünf Kindern und einer Freundin habe sie einen Ausflug nach Hamamatsu
gemacht. Die älteste Tochter war zwölf, sah aber aus wie 15 oder 16
und war überhaupt nicht schüchtern. Eine Tochter war auf
Krücken, hatte nur ein Bein und eine riesige Narbe auf dem zweiten.
30. Juli Betriebsausflug mit der
Kyôto-Universität an den Biwa-See. Zuerst auf den Berg
Hôrai-san. Herrlicher Blick, aber die Natur zu einem billigen
Vergnügungspark verramscht. Bunte Sessellifte, damit man keinen Schritt
gehen muß und überall aus Lautsprechern Schlager.
Anschließend kaiseiki-ryôri. Man sitzt auf den
Reisstrohmatten (tatami) und jeder hat ein Tablett mit verschiedensten
Leckerbissen vor sich. Dazu wird getrunken, vor allem Bier. Drei Männer
hatten ihre kleinen Kinder mit, aber keiner seine Frau. Mein Nachbar, der in
der Universitätsverwaltung beschäftigt ist, hielt mir nach einigen
Gläsern einen Vortrag: Er meinte, daß die Kinder ein von den Eltern
getrenntes Leben hätten und daß die Eltern kein Recht hätten,
auf die Kinder irgendeinen Druck auszuüben. Die Eltern sollten den Kindern
- auch den Töchtern - bis zum Alter von 20 alle Hilfe zuteil werden
lassen, Geld müsse dafür einfach da sein, auch wenn die Eltern sich
einschränken müßten. Wenn es mit der Schule nicht funktioniere,
sei das auch keine Tragödie, dann müsse man eben den nächsten
Schritt ins Auge fassen. Das Leben sei kurz, und jeder müsse so leben,
daß er nichts zu bereuen habe. Er wolle seinen Kindern das auch
ermöglichen. Seine Tochter, elf Jahre alt, habe aber nur mit seiner Frau
ein wirklich gutes Verhältnis. Zu ihm kämen die Kinder nur, wenn sie
irgendetwas brauchen. Er hatte die elfjährige Tochter mit, Vater und
Tochter schienen mir sehr vertraut miteinander umzugehen! Seine Frau, eine
Verkäuferin, arbeitet am Samstag nachmittag, aber sie wäre auf keinen
Fall mitgekommen, meint er. Später, im Autobus, sang er gefühlvoll
und mit feuchten Augen zum karaoke. Sowohl beim Essen wie auch im Bus
fehlte nicht ein Monitor mit Video-Klips zu beliebten Liedern mit
Orchesterbegleitung. Das Gesang dazu übernehmen die Anwesenden. Das ist
kara-oke , ein halb japanisches und halb englisches Wort: ,,Leeres
Orchester". Ich frage mich, warum bei allen Video-Clips schöne Frauen
weinend oder sehnsüchtig blickend durch den Sturm oder an
heranpeitschenden Meereswellen entlang wandern, einsam und liebeskrank!
Wünschen sich die Männer wirklich am meisten, daß eine Frau
sich nach ihnen verzehrt, wie mir ein Mann erklärt hat? Man stellte
fest, daß mein Sohn Felix, der auf dem Ausflug dabei war, mir
ähnlich schaue. In Japan glaubt man nämlich, daß ein Sohn, der
seiner Mutter ähnlich schaut, glücklich wird!
31. Juli, Kyôto Sonntagsausflug, zuerst zum
Tempel Ryôanji mit Felsengarten und Lotusteich, dann zum Goldenen
Pavillon, über den Yukio Mishima seinen berühmten Roman. geschrieben
hat. Bäume, Berge, Quelle und darin eingebettet das von den Menschen
Geschaffene, wunderschöne Holzdächer, Bambuszäune, jede
Regenrinne ist ein Kunstwerk, Brücken. Unglaublich, daß es dieselben
Japaner sind, die das zustandebringen, und auf der anderen Seite die
Verschandelung der Natur am Biwa-See! Aber- es sind eben nicht dieselben
Japaner! In einem geschmackvollen Nudelgeschäft mit wunderschönem
Geschirr köstliches Essen. Schließlich am Kamo-Fluß
Feuerwerkskörper und Liebespärchen. Eine laue, geruhsame Stimmung.
Der Inbegriff einer japanischen Sommer-Stimmung.
1. August Speisewagen. Shinkansen-Express. Fahrt
nach Tôkyô. Ich esse Curry-Reis. Ein Mann setzt sich zu mir an den
Tisch. Deutet auf die Uhr, will mir vielleicht vermitteln, daß der Zug
bald in Tôkyô ankommt. Ich denke mir: ,,Womöglich ist er
wirklich stumm!" Bis sich herausstellt, daß er spricht, aber nur beim
Englisch verstummt. Zwischen Nagoya und Tôkyô reiht sich ein
Industriebetrieb an den anderen. Halbe Berge abgetragen. Buchten verbetoniert.
Die schönste Landschaft Japans verwüstet, die Landschaft der
Holzschnitte von Hokusai, die Landschaft der berühmtesten japanischen
Literaturwerke.
2. August Ich sitze in einem Kaffeehaus am
Bahnhof von Nakano in Tôkyô und warte auf Frau Tanaka. Am
Nebentisch vier Frauen in meinem Alter. Sie reden über Beziehungen: ,,Ich
habe mit meiner Schwiegermutter eine sehr gute Beziehung..." ,,Ich gehe den
Weg, der mir richtig erscheint... sonst nichts!" ,,... Weil ich es nicht mehr
aushalten kann." Später. Frau Tanaka sagte, nur wenn ihr Mann sie
betrüge, würde sie sich sofort verabschieden. Alles andere würde
sie durchhalten... Ich War mit Itsuko Teruoka, sie ist
Ökonomieprofessorin und eine sehr erfolgreiche Buchautorin, bei Frau I..
Nach dem Interview zurück zum Bahnhof von Shimoigusa. Momentan macht der
Taifun Nummer acht schlechtes Wetter. Es war dunkel und dampfig, richtig
gespenstisch. Aber dann die sympathischeste Seite von Tôkyô: kleine
Häuser, schmale Straßen, Bahnhofsschranken und eine
Bahnhofsstraße mit vielen hellen offenen bunten Läden und winzigen
Lokalen. Frau Teruoka lud mich ein. Wir aßen in einem engen Sushi-Lokal,
schmutziges Klo, schmutzige Küche, aber wunderbares Essen: Tofu,
gebratener Fisch, Suppe, O-Sushi. Wir plauderten sehr angeregt. Frau Teruoka:
Männer machen Überstunden, Frauen nicht. Frauen wollen ,,ihr eigenes
Leben leben". Sie selbst habe früher versucht, sich anzupassen, aber
irgendwann habe sie sich entschlossen, von jetzt an zu sagen, was sie denke.
"Otoko wa onna ni taishite hijô ni amaete imasu." Das
heißt etwa: "Die Männer lassen sich Frauen gegenüber
außerordentlich gehen". Sie spüren wohl, meint Frau Teruoka, was die
Frauen von ihnen wünschen, aber sie gehen nicht darauf ein. Männer
untereinander hingegen seien sehr zurückhaltend - der Begriff enryo
wird in Japan mit Respekt und Achtung assoziiert. Frau Teruoka meint,
Männer zeigten gegenseitig enryo, sie hätten von klein auf
gelernt, Stolz zu haben und respektierten das untereinander. Männer
könnten nur mit Hilfe von Alkohol ihre Reserviertheit überwinden.
Frauen reden miteinander ohne enryo - achtungsvolle Reserviertheit.
Das Stadtviertel Shinjuku mit seinem Riesenbahnhof war ein Lichtermeer. Ich
sah viele beschwipste Männer. Die japanischen Männer schauen mich nur
direkt an, wenn sie betrunken sind! Ich schaute
zugeknöpft. Während des Essens an der Theke des kleinen Lokals das
erste Erdbeben. Jetzt wieder ein Erdbeben. Im siebenten Stock eines Hotels mit
Fenstern, die nicht zum öffnen sind, inmitten eines dicht verbauten
Stadtteils ist mir etwas unheimlich zumute!
3. August "Hotto onegaishimasu"- Bitte
einen Heißen - Ich sitze im Cafe. Heute beim Frühstück im Hotel
war ich nur von sararii-man (Angestellten) umgeben. Da sie aber nicht
mehr beschwipst waren, sah mich niemand an und ich kam mir fast wie alleine
vor. Ich mache sie vielleicht unsicher, weil sie nicht lernen, mit Frauen
umzugehen. Im Fernsehen wurde behauptet, daß unter jungen
Japanerinnen derzeit Reiten besonders "in" sei. Die Erdbebentätigkeit
setzt sich fort. Abends: Im Fernsehen bringt eine Frau die Wetteransage.
Das gibt es bei uns noch nicht!
4. August Auschecken vom Sun-Hotel in
Tôkyô. Mit einem Bummelzug fahre ich bis Ozu. Auf diesem
Landbahnhof warte ich längere Zeit auf die nächste Verbindung. Viele
Schüler sind zu sehen. Tragen sie auch in den Ferien die dunkelblaue
Schuluniform? Heiß. Berge. Meeresbuchten. Auf der Weiterfahrt spricht
mich ein junger Pakistani an, der bei einer japanischen Familie untergebracht
ist. Er läßt sich von mir japanische Vokabel beibringen. Die
mitreisenden Japaner amüsieren sich sichtlich. Um 13 Uhr Ankunft in
Ôyama am Fuße des Fuji-Massivs. Ich erwarte, daß mich Frau T.
abholt. Masako T. ist Volkschullehrerin, 37 Jahre alt und ehemalige
Schülerin der Frauenkurzuniversität von Hamamatsu, an der Frau Imai
unterrichtet. Sie ist am Bahnhof, eine hübsche Frau, sorgfältig
angezogen, weiß-schwarz kariertes Sommerkostüm mit kurzen
Ärmeln, eine schwarze Schleife über dem Haarknoten. Sie wartet mit
einem Kind auf mich. Auch ihr Mann ist mitgekommen. Er ist Ende 30 und hat
graue Strähnen im Haar. Er arbeitet beim Finanzamt und hat gerade
Mittagspause. Er führt uns mit dem Auto durch den Ort, ein Bach rauscht,
schöne Blicke, alles ist grün. Wir steigen vor einem großen
Haus aus, Malven, Sonnenblumen und andere Blumen blühen im Garten.
Großmutter und Großvater tauchen auf der Veranda auf. Beim
Haupteingang begrüßt mich auf Knien die "große
Großmutter". Sie ist über 90 jahre alt. Die Seitenwände im
Parterre sind zurückgeschoben, damit Luft ins Hausinnnere kommt. Im
"Wohnzimmer" wartet auf dem tatami-Boden eine lange Tafel voll bunter
Speisen, alle Köstlichkeiten, die zu einem guten Essen gehören,
O-Sushi, Sashimi (roher Fisch mit und roher Fisch ohne Reis), gebratenes
Fleisch, verschiedene Gemüsesorten. Der Großvater setzt sich ans
Ende des Tisches und konversiert vor dem Essen mit mir, während die
"kleine Großmutter" - seine Frau - mit den letzten Vorbereitungen
beschäftigt ist. Ob Österreich ein kommunistisches Land sei? Man hat
sich mit dem Atlas auf mein Kommen vorbereitet. Er war Lehrer und habe einmal
eine Europareise gemacht, aber in Wien sei er nicht gewesen. Man wundert sich,
daß ich Eßstäbchen benützen kann. "Papa" geht bald wieder
in die Arbeit. Frau T. und ich ziehen uns ins Ausgedinge zurück, weil es
dort ruhig ist. Leider nützen die vorzüglichen Vorbereitungen
für das Interview nichts, weil aus irgendwelchen Gründen das
zweistündige Gespräch auf der Kasette kaum zu hören ist!
Frau T. lebt mit Mann und drei Kindern in einer Viergenerationenfamilie. Die
"große Großmutter" macht nichts mehr, aber die kleine
Großmutter, auch schon über 70, führt den Haushalt,
während sie selbst im nächsten Ort in der Volkschule Lehrerin ist.
Nie kommt sie vor sechs Uhr nach Hause, oft später. In der Freizeit
unernimmt sie natürlich nichts ohne ihre Familie, mit der sie sowieso nur
wenig beisammen ist. Der Beruf ist ,,Nummer eins" für sie, wie sie sagt.
Auch jetzt in den Ferien ist in der Schule Programm für die Schüler,
und die Lehrer haben nur ungefähr 10 Tage wirklich frei. Diese Tage wolle
die Familie für einen etwa dreitägigen Ausflug zu den alten
Kulturstätten von Kyôto und Nara nützen. Der Großvater
versorgt den Garten und das Feld rund um das Haus. Finanziell legt jeder seinen
Beitrag in die Haushaltskasse. Der Mann und sie haben ein eigenes Zimmer und
spät am Abend besprechen sie oft noch verschiedenste Probleme. Die Ehe ist
eine sogenannte shôkai-renai-kekkon (Liebesehe über
Vorstellung). Eingefädelt hat sie der Schwiegervater. Er fragte sie, ob
sie nicht seinen Sohn heiraten wolle. Er war Lehrer in ihrer Schule. Sie
habe nur den Wunsch, meint sie, arbeiten zu können, bis ihr Sohn mit
seiner Braut ins Haus einziehe und sie dann für ihn und die Enkelkinder
sorgen könne. Derzeit allerdings sehe es so aus, als ob sie
möglicherweise bald zu arbeiten aufhören müßte. Das
Hüftleiden der Schwiegermutter werde immer ärger, und bald würde
sie sich nicht mehr um den Haushalt kümmern können. Schon jetzt
richteten die Geschwister des Mannes sie aus, weil sie die Mutter im Haus
arbeiten ließ, nur, um außer Haus ihrem Beruf nachzugehen.
Deutlich geht aus dem langen Gespräch hervor, wie sehr der Gedanke, die
Arbeit eventuell aufgeben zu müssen, Frau T. bedrückt. Ihre Arbeit
bedeutet vielleicht nicht nur Erfolgserlebnisse, sondern auch Freiheit von dem
Korsett einer großen Familie, Abwechslung und, nicht zu vergessen, die
Familie braucht ihren Verdienst auch nötig, um die Ausbildung der drei
Kinder zu finanzieren. Ob sie später für den Sohn wirklich freudigen
Herzens zu Hause bleiben wird? Ich glaube eher, sie rechtfertig sich jetzt vor
sich selbst mit dem Argument, sie sei ja bereit, für die Kinder dasselbe
zu leisten, wie die Elterngeneration für sie. Zum Schluß sagt
Frau T. erleichtert: "Jetzt habe ich zum ersten Mal mit jemandem aus dem
Ausland gesprochen, das war wirklich gut. Offensichtlich sind Ausländer
auch Menschen!" (Hajimete gaijin to hanashimashita ga, ii keiken ni
narimashita. Yappari gaijin mo ningen desu ne!) Im ersten Augenblick bin
ich perplex und unangenehm berührt. Aber Frau T. will wohl nur sagen,
daß wir uns von Frau zu Frau verstanden haben. Ihre Probleme sind auch
mir bekannt und umgekehrt. Ich erzähle bei den Interviews immer auch
einiges von Österreich, damit die Information nicht nur einseitig ist. Zum
Abschied bekomme ich eine riesige Holzschachtel mit somen- Nudeln, einer
Spezialität der Gegend, eingewickelt in ein rotes Tragetuch. Und ein
Geschenkkuvert mit Geld vom Großvater. Er wisse, daß Reisen teuer
ist, weil er selbst gereist sei. Was tun? Ich bin mit meinen japanischen
Verhaltensregeln am Ende. Eines ist mir aber klar - zurückweisen kann ich
dieses Geschenk auf keinen Fall!
5. August, Mishima Herr K. sagte, wenn Burschen
in eine Mädchenschule gehen, ist es ebenso pervers, wie wenn Burschen sich
schminken. Gestern am späten Nachmittag fuhr ich noch von Oshima nach
Mishima. Wieder werde ich erwartet: von Frau Imai und ihrer 19jährigen
Nichte Shizuyô K.. Diese ist sehr zart, redet sehr lebhaft, sehr singend
und sehr höflich, trotzdem sehr direkt. Zu meiner Überraschung ist
auch ihr Vater am Bahnhof. Es handelt sich um die Familie der jüngeren
Schwester von Frau Imai. Früher konnte man vom Rand der Stadt, wo die
K.s ihr Haus haben, Kakibäume, Reisfelder und den Berg Fuji sehen,
erzählen sie mir. Aber jetzt hat jemand ein zweistöckiges Haus
vorgebaut. Die jüngere Schwester Frau Imais begrüßt uns mit
vorgebundener Schürze. Frau Imai und ich schlafen in dem Zimmer, in dem
bis zu ihrem Tod die Großmutter wohnte. Wir fallen zur
Begrüßung alle auf die Knie. Ich schenke die somen-Nudeln
weiter. Ich werde ins Bad geschickt, dann gibt es das Essen. Die Küche, in
der die Schwester werkt, ist direkt ohne Wand an das Wohnzimmer angeschlossen.
In der Mitte des Zimmers ein runder Eßtisch, natürlich sitzen wir
auf Kissen auf den Reisstrohmatten. Ein Klavier ist da. Auch der Sohn des
Hauses, ein hochgewachsener hübscher Bursch, 18 Jahre alt, taucht auf. Er
fragt mich sofort, ob ich fände, er schaue wie ein Kind aus, weil ja
Japaner für Amerikaner so jung wirken. Ich antworte, daß ich keine
Amerikanerin sei... Wie immer wird speziell für mich Fleisch aufgeboten
und Brot. Denn Fleisch und Brot ißt man im Westen. Fisch und Reis
wäre für mich wahrscheinlich nicht zu konsumieren, nimmt man an.
Bald entsteht eine heftige Diskussion, vor allem zwischen Vater und Tochter;
Sohn und Mutter schweigen, Frau Imai wird ab und zu von der Tochter um Beistand
ersucht. Es handelt sich, wie man mir mitteilt, um einen Familienstreit, wobei
die Tochter ständig lacht, der Vater nicht schreit, jedoch sichtlich in
Argumentationsnot gerät und fast verzweifelt wirkt. Es dreht sich
grundsätzlich darum, ob der Vater die Meinung der Tochter verstehen
könne und sie auch ernst nehme und umgekehrt. Die Diskussion ist davon
ausgegangen, daß ich nach meinen Kindern gefragt wurde, man kommt auf die
japanische Jugend zu sprechen, das Modewort shinjinrui taucht auf, das
man mit "die neuen Menschen" übersetzen könnte. Dieses Wort sei ein
Etikette, das die Alten den Jungen aufkleben, weil sie diese nicht verstehen
könnten. Die Wörter kankaku und gimu fallen,
"Gefühl", "Sinnlichkeit", "Einfühlung" versus "Pflicht". Die
19jährige Shizuyo: "Junge Leute handeln nach ihrem Gefühl". Der
Vater: "Es gibt Rechte, aber davor ist die Pflicht". Die Tochter: "Zwischen
Jungen und Alten ist ein Riß" (gyappu vom englischen gap).
"Die meisten jungen Leute reden gar nichts mehr", meint sie. Sie sei
altmodisch, weil sie immer noch versuche, anderen etwas zu erklären, aber
die Alten verstünden ja doch nicht. Sie könne trotzdem den Vater als
Mensch sehen und anerkennen, daß er anders denkt als sie, wenn sie auch
seine Ansichten nicht teile. Er hingegen verstehe überhaupt nicht, wovon
sie rede. Er: "Wenn du dieser Meinung bist, hört sich alles auf". Sie:
"Unsere Meinungen sind wie zwei verschiedene Kuchen auf zwei verschiedenen
Tellern". Der Bruder lacht. Die Mutter fordert den Bruder auf, mehr zu reden.
Die Schwester sagt, er gehöre eben zu den Jungen, die sich wenig Gedanken
machen und nicht irgendjemanden von irgendetwas überzeugen wollen.
Schließlich entschuldigt man sich bei mir - völlig unnötig, da
ich diesen Einblick in die intime Familiensituation sehr genieße -,
daß es wenig Gelegenheit für Gespräche gebe, denn normalerweise
sei Shizuyo zum Studium in Tôkyô, der Bruder verschwinde sofort
nach dem Essen und der Vater komme erst zwischen zehn und elf Uhr nach Hause.
Er arbeitet als Tierarzt, mit der Bahn zwei Stunden entfernt. Unter anderem
erzählt er an diesem Abend, daß neuerdings auch Frauen aufgenommen
würden, aber das bringe Probleme, weil sie Kinderpause machten und es
unmöglich sei, für ein Jahr einen Ersatz zu finden. Wie sich doch die
Probleme gleichen! Auf alle Fälle scheint mir trotz der
Auseinandersetzung, daß Vater und Tochter sich sehr nahe sind. Als ich
später aus dem Bad komme, hilft Papa gerade mit Schürze seiner Frau
beim Aufräumen. In der Nacht klingelt vor den Holzjalousien die
Windglocke. Zwischen drei und vier Uhr bebt es mindestens viermal. Ich wache
jedesmal auf und fürchte mich. Beim Frühstück machen die
Gastgeber ein peinlich berührtes Gesicht, als hätten sie es
diesbezüglich an Gastfreundschaft mangeln lassen. Am Vormittag,
während ich mit Shizuyo das Interview durchführe - ebenfalls tonlos,
wie sich gerade herausgestellt hat - hämmert der Vater an Stellagen
für die Wohnung seiner Tochter in Tôkyô. Er führte sie
nach unserer Abfahrt hin. Sie sagt, sie müsse um acht Uhr abends in
Tôkyô sein, weil sie ab dieser Zeit in einer Cafeteria arbeite.
Shizuyo studiert an einer Art Universität für Angewandte Kunst. Die
Eltern zahlen monatlich mehr als 100 000 Yen: 4000 Yen für die Miete und
750 000 Yen Universitätsgebühren. Ganz abgesehen von den
Einschreibungskosten, die ebenfalls mehrere 100 000 Yen ausmachen. Die Mutter,
Lehrerin von Beruf, bessert derzeit das Familieneinkommen als
Teilzeitarbeiterin in einer Fabrik auf! Shizuyo will "ernsthaft ihren
eigenen Weg suchen". Der Einfluß von Frau Imai, der starken Tante, die
nicht geheiratet hat, scheint groß. Mittags werden übrigens die
somen-Nudeln von Frau T. aufgetischt - damit ich weiß, wie sie
schmecken und mich ehrlich bedanken kann. Mit dem Shinkansen-Express nach
Hamamatsu. Im Zug bespreche ich mit Frau Imai nochmals die Fragebögen.
Abends Interview mit Frau S. und Frau U. vom Hamamatsu-Beratungszimmer für
Frauen. Nachher plaudern wir noch. Frau Imai erzählt, daß sie
sich vor dem einjährigen Europa-Aufenthalt 1976 immer für
absonderlich (hen) gehalten habe. In Europa habe sie gemerkt, daß
die anderen Japaner absonderlich seien, und sie habe nach ihrer Rückkehr
zu Frauenfragen nicht mehr den Mund gehalten. Der Aufenthalt in Wien war
für sie ein "Kulturschock", ein "Schlüsselerlebnis", sagt sie.
Frau S. erzählt in bezug auf ihre Ehe, daß ihr Mann ein "Freund"
für sie (tomodachi) sei. Ihr Verhältnis zu ihm sei in den
letzten Jahren viel besser geworden. Er akzeptiere ihre Tätigkeit.
6. August, Hamamatsu Völlig aufgelöst
wegen der Hitze und eine Stunde verspätet kam heute vormittag Frau T. im
Hotel an. Sie ist die Vorsitzende des Absolventinnenvereines der
Städtischen Frauenoberschule von Hamamatsu. Ihre Unterstützung
brauche ich, um an 500 Absolventinnen dieser Schule der Jahre 1947 bis 1986
eine schriftliche Befragung zu den Themen Ehe, Liebe, Sexualität und
Arbeit durchführen zu können. Per Telefon holte sie die
Vizevorsitzenden herbei und ich konnte ihr mein Geschenk nicht übergeben:
Ich habe nur eine Petit point-Tasche mit! Alle drei schauten den Fragebogen
durch, schienen interessiert. Es wurde beschlossen, daß bei der
Vorstandssitzung am 23. August Fragebögen an alle Vorstandmitglieder
ausgeteilt werden sollten, vielleicht würden einige den Fragebogen der
Schwiegetochter nach Hause mitbringen wollen. Die Adressenliste der
Absolventinnen würde Frau Imai übergeben werden, worauf die
Fragebögen ausgeschickt werden könnten. Dann erzählten sie
über das Heiratsberatungsbüro des Absolventinnenvereins. Fast jede
Oberschule hat eine solche Ehevermittlungsstelle angeschlossen. Sie berichteten
Fakten, die ich schon kenne: Die Frauen sind wählerisch, fast immer lehnen
bei den Eheanbahnungsverfahren die Frauen ab. Und oft wegen lächerlicher
Kleinigkeiten ... Um fünf Uhr Interview mit Yoko H. im Hotel. Nach dem
Interview essen wir zusammen mit Yoko und ihrer ehemaligen Englischlehrerin,
Frau N., die dieses Interview vermittelt hat. Langes Gespräch,
ungefähr drei Stunden. Es ist die Rede davon, daß Kinder, die etwas
anders sind als die anderen, zunehmend gequält werden. Yoko H.
bestätigt das. Sie sei vor allem in der Volkschulzeit ausgespottet worden,
weil sie dick war. Außerdem beklagt Frau N., die Lehrerin, daß die
Mädchen Cliquen bilden, bei 50 Schülerinnen einer Klasse - sie
unterrichtet in einer Mädchenschule - jeweils Gruppen von sieben bis acht
Mädchen. Die machen alles zusammen, gehen sogar gemeinsam aufs Klo und
warten beim Zurückgehen aufeinander. Für jemand Neuen sei es sehr
schwer, sich zu integrieren. Wer in keiner Gruppe sei, leide darunter, bis zu
Schlafstörungen. Mütter rufen bei ihr an: "Meine Tochter muß
allein aufs Klo gehen, allein zu Mittag essen... " Frau N. liegt dann auf der
Zunge: "Na und, was ist denn schon dabei, das ist doch normal." Sie versucht
der Cliquenbildung entgegenzusteuern, zum Beispiel mit Wechseln der
Sitzplätze. Aber die Kinder werden von den Eltern zur
Unselbständigkeit erzogen. "Jibun ga nai - ima no wakai hito no naka
de (Die heutigen jungen Leute haben kein Selbst)." Zuerst sind es die
Eltern, dann die Gruppe, dann der Ehemann, von denen sie abhängig sind.
Überall der Wunsch zu amaeru - sich liebhaben lassen. Das Wort
amaeru wird im gewöhnlichen Sprachgebrauch fast immer negativ
eingesetzt: Nicht aufeinander eingehen, egoistisches Sich-gehen-lassen,
Klammern. In amaeru ist Egoismus, Rücksichtlosigkeit und
Unselbständigkeit enthalten. Auf jeden Fall scheint es, als
würden die jungen Frauen nicht selbständiger, trotz Trend zur Arbeit,
mehr Sex, freiem Leben vor der Ehe, größerer Gesprächigkeit und
größerer Unbefangenheit. Sondern verwöhnt, oberflächlich
und auf andere angewiesen. Sie "wollen sich vergnügen". Sie
"amüsieren sich" und sie "lassen sich verzärteln" (asobitai,
tanoshiku yaru, amayakaseru). Die mittlere Generation sei anders. Die ist
noch gewohnt, etwas durchzuhalten (gaman suru) und setzt diese
Fähigkeit ein, um einen "eigenen Weg zu finden". Das ist der Tenor des
Gesprächs.
7. August Heute früh, noch vor dem
Frühstück, Gespräch mit Frau Imai, die vermutet, Yoko H.
hätte kein "Selbst" (jibun ga nai). Ich wendete ein, daß auch
Mutterschaft und Eheleben eine Art "Verwirklichung des Selbst" sein
könnten (jibun o genjitsu suru). Es kommt darauf an, auf die
eigenen Wünsche zu hören, sich dem entsprechend zu verhalten, was man
in sich selbst spürt - und nicht nach dem, was andere, selbst, wenn diese
Feministinnen sind, für richtig halten! Zuerst muß ich wissen, was
das eigene Selbst ist, dann kann ich es verwirklichen. Sagte ich. Wir sprachen
auch über Frauenfreundschaften. Von Frauen mit Frauenbewußtsein
würden Frauenfreundschaften in den letzten zehn Jahren stark propagiert,
als seelische Unterstützung, erzählte Frau Imai. Sie nannte Kimi
Komashaku und Aya Konishi als Paradebeispiel. Als Frau S. unlängst fragte,
ob die beiden eine lesbische Beziehung hätten, verneinte dies Frau Imai.
8. August, Kyôto Um 16 Uhr sind wir in
einem Vorort von Ôsaka bei Familie S. zu einer Party eingeladen. Mit
Kind. Die Ehefrau war Verlegerin (oder Redakteurin) und arbeitet trotz drei
Kindern (ein, sechs und acht Jahre alt) immer noch freiberuflich. Außer
uns ist eine Familie T. geladen und eine Nachbarin. Alle haben
Auslandserfahrung. Als der Ehemann der Nachbarin gegen acht Uhr heimkommt,
stehen wir gerade auf der Straße vor dem Haus und sehen den Kindern zu,
die Feuerwerkskörper knallen lassen. Die Frau sagt beiläufig:
"Willkommen daheim" (O-kaeri). Nichts Herzliches in der Stimme, kein
Kuß. Bei uns würde das auf Ehekrach oder Entfremdung deuten. Das
Ehepaar T. heiratete während des Studiums. Das erste Kind brachte die Frau
im Hort unter. Beim zweiten Kind gab sie auf. Der Mann will nicht, daß
sie arbeitet. Das Ehepaar S. war in Amerika. Sie setzt uns unter anderem
gesunde Kost vor, genmai-nigiri, Reißklöße aus
Naturreis. Beide erzählen Anekdoten, wie ihre Versuche, mit Amerikanern
über das japanische Essen Freundschaft zu schließen, fehlgeschlagen
seien. Herrn S. fällt ein, wie er am Flughafen in den USA seine Frau
und sein Kind erwartet habe und beide unfähig gewesen seien, gleich den
sie die umgebenden Amerikanern, laut und offen ihre Wiedersehensfreude
auszudrücken. "Alle umarmten und küßten sich, aber wir standen
nur wortlos und steif gegenüber und sagten soviel wie: Grüß
dich. Japaner können ihre Gefühle nicht im körperlichen Ausdruck
zeigen." "Warum können das Japaner nicht", fragt er. Niemand hier
weiß eine Antwort. Die Kinder sind noch unbefangen. Auch Erwachsene zu
Kindern. Wann hört die spontane körperliche Berührung auf, wo
ist die Grenze?
10. August Bin vor dem Regen in ein Kaffeehaus
geflüchtet. Die Theke ist um einen Flügel herum gebaut. An der Decke
hängen viele viele getrocknete Rosen. Ein Mikrophon und ein
Notenständer deuten daraufihn, daß Musik gemacht wird. Warum lieben
die Japaner karaoke so? Jemand erklärte mir: "Nur in der Einsamkeit
(sabishisa) der karaoke-Lieder finden die Menschen einen Weg, die
verdrängten Gefühle und Wünsche zu verwirklichen."
Sentimentalität als Ersatz für erfüllte Bedürfnisse?
12. August, Katada Nach fünf Jahren wieder
hier in diesem Fischerdorf am Meer bei den Taucherinnen. Aber ich kann hier
nicht Interviews machen wie ich wollte. Es ist O-bon, das japanische
Allerseelenfest. Vom 11. bis zum 17. August ruht die Arbeit. Alle verbringen
die Tage mit ihren Familien und wollen nicht gestört werden.
13. August Goza, ein Badestrand. Es riecht nach
gebratenem Tintenfisch und Meerwasser. Japanische Schlager aus den
Lautsprechern. Die Wellen rollen laut ans Ufer. Die Leute schreien, reden,
lachen. Kurz ein Höllenlärm. Ich sehe eine Frau mit Bikini - kommt
nicht häufig vor. Heute früh plauderte ich zum ersten Mal ein
bißchen mit Atsuko, der Schwiegertochter in unserer Unterkunft. Vor 5
Jahren redeten wir oft und lange zusammen und entwickelten eine Art
Freundschaft. Diesmal waren wir bisher beide befangen. Sie ist keine Taucherin.
Sie arbeitet stundenweise in einer Boutique in Funakoshi und betreibt zusammen
mit der Schwiegermutter den kleinen Gasthof. Jetzt zu O-bon müssen alle
Männer ihre Verwandten besuchen, erzählt sie. Die Schwägerin
Toshimi, die früher gemeinsam mit ihrer Familie ebenfalls hier wohnte, hat
sich mit ihrem Mann selbständig gemacht, ein eigenes Haus gebaut und
fährt mit ihm in einem eigenen Taucherboot zur Arbeit.
14. August Sehr viele Urlauber sind jetzt hier.
Heute fuhren wir zur Insel Oshima und holten uns einen Riesensonnenbrand.
Am Abend endlich kein Regen, sodaß der O-bon-Tanz im Dorf stattfinden
konnte. Unsere Hausfrau nahm uns mit dem Auto mit, zuerst in Toshimis neues
Haus. Riesengroß. Ihr Mann, der mit ihr gemeinsam zum Tauchen
hinausfährt, hat eine Krebsoperation hinter sich. Der Bruder, der in
Ôsaka arbeitet, und seine ganze Familie sind gekommen und
übernachten bei Toshimi. Unsere Hausfrau kündigte uns laut vom
Eingang her an: "Ich habe die Ausländer mitgebracht!" Dann zum
Tanzplatz. Alle tanzen. Viele in Sommerkimonos, andere im Straßengewand.
Der ganze Ort ist auf den Beinen. Unsere Hausfrau gehörte zu den vier
Sängern, die die Trommeln begleiten, offensichtlich eine ehrenvolle
Position. Die Stimmung ist weich und sentimental. Der Vorsitzende der
Fischereigenossenschaft zeigt sich glücklich, daß er uns nach langer
Zeit wiedersieht. Auch seine Tochter und ihre Familie sind hier, wir wundern
uns gegenseitig, wie groß unsere Kinder geworden sind und wir
fotographieren einander zur neuerlichen Erinnerung. Es ist, als träfe man
alte Bekannte vom Nachbarhaus. Obwohl wir hier in einem japanischen Fischerdorf
mit japanischen Fischern und ihren Verwandten, die allerdings städtische
Angestellte und städtische Schüler sind, in einer schwülen
Sommernacht dem japanischen Bon-Tanz zusehen.
18. August, Kyôto Bei Familie Y.
eingeladen. Ein hübsches neues Haus in einer aus dem Boden gestampften
Wohngegend am Rand von Kyôto. Ein Bach rauscht neben dem Haus. Bambus
wächst hinter dem Haus. Wir werden in die Wohnküche geführt. Es
sieht chaotisch aus - wie in vielen japanischen Küchen. Ich würde
mich in dem Chaos selbst nicht mehr auskennen. Frau Y. hingegen zaubert
verschiedenste Gänge eines chinesischen Essens herbei. Herr Y., ein
Universitätsprofessor, bindet sich in japanischer Arbeiterart ein
hachimaki, ein Handtuch, um den Kopf und knetet den Gyôza-Teig,
Teigtäschchen, gefüllt mit Gemüse und Faschiertem.
Außerdem gibt es Melanzani mit Miso und Sesam, Gurken und Fleisch,
schwarze Pilze, Krebse in Knoblauch-Sauce, scharf gebratene Hähnchen,
Pudding, Kaffee. Das alles auf einem zweiflammigen Herd in unserer Anwesenheit
gekocht! Und mit lustiger und ernsthafter Unterhaltung gewürzt. Die junge
Familie hat ein kleines Kind, ein Mädchen. Die beiden heirateten über
miai (Vorstellung). Herr Y. war schon über 30. Er verlangte von
ihr, daß sie ihre Stelle bei der JAL aufgebe. Sonst würde nicht aus
der Heirat. "In der ersten Zeit nach der Hochzeit bin ich mir wie tot
vorgekommen", sagt sie. Er sagt, das habe sie ihm nie erzählt. Jetzt
besteht das Problem, daß sie engen Kontakt mit seiner Mutter ablehnt. Sie
möchte ihre Familie mit Kind und Mann genießen. Er möchte gerne
mit beiden Frauen ein unkompliziertes Verhältnis haben.
19. August Heute nützte ich die Zeit
für eine letzten Tempelbesuch. Im Manshûin-Tempel störte die
Stille der Zikaden und Vögel ein überheblicher japanischer
sensei mit seinem deshi (Lehrer mit Schüler). Er erging sich
lautstark über die Unvergleichlichkeit und Einzigartigkeit Japans und
wetterte gegen Demokratie und Individualismus, die japanische Traditionen
zerstören.
20. August, Tôkyô Japanische Freunde
haben eine Wiedersehensfeier organisiert. Viele Bekannte aus 20 Jahren
Japan-Kontakt sind gekommen. Jeder von ihnen muß 8000 Yen zu zahlen,
quasi sein Essen. Die meisten bringen noch ein kleines Geschenk mit. So will es
der japanische Brauch. Wiedersehen mit Frau I. und mit ihrer Stieftochter
Mariko. Herr I., ein Arzt, ist vor 4 ½ Jahren gestorben. Seinerzeit
wurde Mariko wegen eines Liebesdramas zu uns nach Wien geschickt. Jetzt ist sie
schon einige Jahre mit einem vermittelten Partner verheiratet, ist
berufstätig und möchte ein Kind, der Arzt hat gesagt, viel Sport
wäre gut. Sie ist bildhübsch und kokett und muß mit ihrer
Schwiegermutter zusammenwohnen, was schlimm für sie ist. Die Stiefmutter,
ebenfalls sehr attraktiv und voll Lust am Flirten, hat ein
Eheanbahnungsverfahren mit einem verwitweten Arzt aus dem Norden Japans hinter
sich; die beiden verliebten sich. Aber der Stiefsohn ist dagegen, daß
Frau I. den Familiensitz in Tôkyô aufgibt. Frau I. hat den Antrag
vorderhand einmal abgelehnt, aber der Arzt scheint noch nicht aufgegeben zu
haben, und sie wohl auch nicht. Sie als Krankenschwester wäre für
einen Arzt - ganz abgesehen von ihrem Charm und ihrer köstlichen
Küche - eine optimale Partie. Frau S. wiederum erzählt von der
Sorge um die alte Mutter, die derzeit alleine lebt. Sie hat einen sehr guten
Posten, den sie aber aufgeben muß, wenn die Mutter krank wird und "in die
Familie zurückkehrt". Ihre Generation ist wohl die letzte, die diese
Verpflichtung selbst in sich fühlt und in der dieses Opfer von Frauen
erwartet wird, sagt Frau S. Ihre eigene Tochter, um die 20, denkt nicht mehr
daran, für sie zu sorgen, und sie selbst will ihr Leben im Alter so
einrichten, daß sie das nicht nötig hat. "Japanische Frauen
halten bisher einfach zu viel aus", sagt sie.
21. August, Im Flugzeug zwischen Tôkyô und
Moskau Warum sind viele Leute bei uns auf Japan und die Japaner so
böse? Weil sich die Japaner nicht so exotisch verhalten , wie sie sollten?
Kein Mensch verlangt, daß bei uns die Idylle herrscht, die einen kleinen
Teil unserer vergangenen Kultur ausmachte. Auf Japan ist man aber wohl vor
allem böse wegen seines Erfolgs, seines Ehrgeizes, seiner Ernsthaftigkeit
in wirtschaftlichen Dingen, weil es den westlichen Kapitalismus so vollkommen
und teilweise westliche Lebensart übernommen hat. Alles ist ähnlich
und doch ein bißchen anders hier als bei uns. Alle Modewellen, von der
Kleidung bis zu den intelektuellen Trends, finden sich hier wie bei uns, wenn
auch bei uns meist ein bißchen später: Kurze Röcke, Auflehnung
der Jungen gegen Anpassungsdruck und Erfolgszwang der mittleren Gegenration,
Ansätze zu einem neuen Bewußtsein und Bestrebungen zur
Selbstverwirklichung unter den Frauen. Was ist anders? Das Leben ist
hektischer: Die Ströme der heimkehrenden Männer spät nachts, die
Fronten der in die Arbeit strömenden Menschen in der Früh.
Dazwischen, mittags, abends, sah ich die Menschen entspannt schlendernd,
lachend. Sie sind nicht immer im Stress. Die Zeit, die Männer und
Frauen zusammen verbringen, ist wahrscheinlich kürzer als bei uns. Die
Heiratsformen sind anders. Die Sorgen um die Eltern belasten mehr. Aber
alles in allem - es kommt mir bei uns egoistischer vor. Ich habe wohl schon
"das japanische Auge". Ich sehe ähnliche Wünsche und
Bedürfnisse, wenn auch die äußeren Formen sich unterscheiden.
Wie zwei Pullover. Beide sind hellblau, aus Wolle und langärmelig, aber
jeder ist in einem anderen Muster gestrickt. Der Pullover ist das Patriarchat
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