Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Sumie Tanaka, 80, Tôkyô, 2. August 1988

Die Einsamkeit liebe ich sehr.

Sumie T.
Sumie Tanaka und ihr Mann, Chikao, sind ein sehr bekanntes Schriftsteller-Ehepaar. Herr Tanaka, ein Dramatiker, ist von den japanischen Medien auch mit dem Etikett "Hausmann" versehen worden. Ich hatte Frau Tanaka als beeindruckende und ungewöhnliche Frau in Japan einige Male getroffen, unter anderem hatte sie uns einmal in ein Theaterstück über die japanische Frauenrechtlerin Raichô Hiratsuka aus der Feder ihres Mannes eingeladen. Diesmal kommt sie mich in einem Kaffeehaus in der Nähe ihrer Wohnung im Bezirk Nakano in Tôkyô abholen. Sie schleppt mich in den Supermarkt, kauft massenweise zum Essen ein, ich soll mir aussuchen, was ich mag. Mit dem Taxi fahren wir zu ihrem Haus. Ein typisches Wohnviertel, schmale asphaltierte Straßen, Mauern oder Zäune schirmen die Einfamilienhäuser von den Blicken ab. Es regnet etwas.
Die Tanakas haben zwei Häuser, denn außer dem Ehepaar wohnen Sohn und Tochter mit ihren Familien sowie zehn Katzen hier. In der Küche werkt eine mittelalterliche Frau, eine der beiden Haushaltshilfen. Im anderen Haus treffen wir die zweite, ein junges Mädchen. Frau Tanaka spricht mit tiefer kräftiger Stimme, sehr schnell und sehr offen, aber auch ziemlich sprunghaft. Immer wieder unterbricht sie und fordert mich zum Essen und Trinken auf, das sei wichtig für die Gesundheit. Nachher nimmt sie mich in ihr Arbeitszimmer mit, um mir ihre ausgestopfte Lieblingskatze zu zeigen. Tatsächlich, eine rötliche Katze im Glassarg wie Schneewittchen, inmitten von Bücherbergen und Papierstößen. Frau Tanaka schreibt hastig einige Briefe an gemeinsame Wiener Bekannte und schenkt mir drei ihrer Bücher zum Thema "Frauen und Liebe". Die schwere Schachtel mit eingelegten Pflaumen für einen Wiener Freund behält sie dann, angesichts meiner bereits gefüllten Taschen, zurück. Sie möchte mich auch noch ins Theater einladen, da ich aber anschließend ein weiteres Interview habe, läßt sie es sich nicht nehmen, mich per Taxi meiner nächsten Betreuerin zu übergeben.
Ich habe 1934 geheiratet. Normal war damals die arrangierte Ehe, japanisch miai-kekkon. Da wurde gut nachgeforscht und so der Partner gewählt. In meinem Buch "Liebe in der Moderne" habe ich über Frauen berichtet, die aus Liebe heirateten. Das wurde von der Umwelt mißbilligt. Das Haus, aus dem ich abstamme, war ein sogenanntes "altes Haus" (kyûka), eine gute Famlie. In meiner gesamten Verwandtschaft gab es unter vielleicht 30 Paaren eine einzige Liebesheirat, und die war auf Kritik gestoßen.

Liebe stört

Ich selbst habe zuerst einmal Liebe nicht ernst genommen. Lieben heißt doch, den Partner wichtiger als sich selbst zu nehmen, sich völlig hinzugeben, sich dem Mann zu widmen. Ich studierte aber wahnsinnig gern, Liebe hätte mich dabei nur gestört. Ich glaube, unter Männern gibt es viele solcher Menschen, für die Liebe in erster Linie eine Belästigung ist. Für eine Frau bedeutet "lieben" heiraten, in eine Familie eintreten und - um 1935 herum - vor allem, nicht mehr das tun zu können, was sie gerne tut, sondern für Familie und Kinder da sein zu müssen.
Daher riet mir sogar meine Mutter: "Heirate nicht!" Ich steige, seit ich 16 oder 17 bin, gerne auf Berge, bin schwimmen gegangen, und am liebsten las ich Bücher. Diese Dinge paßten nicht zu den normalen Voraussetzungen für eine Eheschließung. Ich verabscheue kochen, ich verabscheue Hausarbeit. Jetzt habe ich zwei Hilfskräfte, ich koche auch ganz gerne, aber das Wegräumen mag ich nicht. Die japanischen Männer lassen fast alle diese Dinge ihre Frauen machen. Daher sagte Mutter, ich solle nicht heiraten, sondern studieren, und eine große Wissenschaftlerin werden.
Meine Mutter weinte, als ich heiratete, sie fühlte sich verraten. "Dafür habe ich meine Tochter nicht erzogen!" In der Verfassung vor 1945 gab es Bestimmungen zum Ehebruch der Frau. Wenn eine Frau einen anderen Mann liebte, wurden sowohl die Frau wie auch der Geliebte bestraft, ein Mann aber konnte neben seiner Ehefrau soviele Frauen haben wie er wollte. Wir hatten ein großes Haus und es gab auch Nebenfrauen (mekake). Meine Mutter litt darunter sehr. "Heirat hat noch keine einzige Frau glücklich gemacht", sagte sie. Wenn eine Frau wie ich, die so viele Dinge gern tat, heiratete, würde sie mit Sicherheit unglücklich, glaubte meine Mutter. Raichô Hiratsuka, eine Schriftstellerin der Meiji-Zeit (1868-1912), heiratete einen Maler, aber dieses Paar trug sich nicht in das Familienregister ein. Sie wollten nicht nach den Meiji-Gesetzen heiraten, sondern ein gemeinsames Leben führen. Auch die Kinder ließen sie nicht eintragen. Meine Mutter hielt diese Art von Zusammenleben für ideal, für beneidenswert. Sie war 1884 geboren und hat sehr gerne gelernt. Sie heiratete aber in diese alt eingesessene Familie, in der es Konkubinen und Kinder von Konkubinen gab. Die Nebenfrauen wohnten in eigenen Trakten, die Dienerschaft war aufgeteilt. Das war in großen Häusern die selbstverständliche Situation. In ärmeren Schichten konnte man sich das nicht leisten, aber unter reicheren Leuten gibt es das heute noch.
Ich hatte eine ältere Schwester, eine sehr schöne Frau. Sie ging in eine Schule, in der Mädchen gute Manieren lernten, auch Nähen und Poesie. Alle lobten sie. Ich war das Gegenteil. Ich hatte ein häßliches Gesicht und keine Heiratsanwärter. Mutter sagte daher, ich solle aus eigener Kraft leben. So besuchte ich die beste Schule, die es damals für Frauen gab, die Tôkyô-Mädchenoberschule, die jetzige Ochanomizu-Frauenuniversität, und wurde Lehrerin. Ein Drittel meiner Freundinnen aus der Schulzeit sind ledig geblieben - sehr ungewöhnlich für Japan -, entweder haben sie gar keinen Partner gesucht oder sie ließen sich scheiden.
In unserer Verwandtschaft gab es die schon erwähnte Liebesheirat. Ich beobachtete, daß diese Frau wegen eines einzigen Mannes von der Umgebung abgelehnt wurde. Ich hasse es, mich um einen Mann zu bemühen (lacht). Mein älterer Bruder ist Arzt. Er sagt, er könnte mit mir zusammen nicht drei Tage leben. Ich habe auch einen jüngeren Bruder. Die Brüder meinten, es sei für sie schwierig, zu heiraten, solange ich unverheiratet im Hause lebte. Ich solle ausziehen. Aber ich hatte meine Mutter sehr lieb und wollte mich nicht von ihr trennen. Es war auch unmöglich, daß nur sie und ich zusammenlebten.

Eine nicht standesgemäße Partie

Dann kam mein Mann. Er war bewundernswerter als ich. Ein Künstler. Ein Dramatiker. Er hielt in einem Brief um meine Hand an. Meine Mutter lehnte die Ehe ab, weil unser Haus ein altes Haus sei und es ginge nicht an, sich um die Hand ihrer Tochter mit einem Brief zu bewerben. Normalerweise kam von der Familie des Ehewerbers ein Repräsentant und stellte sich vor, gekleidet in den formellen Kimono mit Familienwappen. Von der heiratsfähigen Frau wurde ein Foto im Prachtkimono mit langen Ärmeln gemacht und mit Kuchen zusammen an Bekannte übermittelt: ,,Wissen Sie vielleicht eine geeignete Partie für unsere Tochter? Bitte unterstützen Sie uns."
Bevor Tanaka um mich anhielt, machte ich dreimal ein o-miai mit. Es handelte sich immer um Ärzte, da mein Vater Arzt war. Ich fragte jedesmal beim ersten Treffen alle: "Wie halten Sie es mit der Religion?" "Was halten Sie davon, wenn beide arbeiten?" Normalerweise fragte der Mann das Mädchen, dieses schaut zu Boden... Ein Arzt aus Kagoshima lehnte mich ab. Dort sind die Männer heute noch Paschas. Die Wäsche des Mannes wird zum Trocknen auf der oberen Stange, die der Frau unten aufgehängt. Er lehnte ab, weil es nicht angeht, daß eine Frau einem Mann Fragen stellt. Ich war sehr froh, denn in so eine Familie wollte ich sowieso nicht gehen. Wenn er nicht abgelehnt hätte, hätte ich ihn vielleicht trotzdem geheiratet und hätte versucht, diese Sitten zu zerstören.
Mein späterer Mann war fünf Jahre älter als ich. Ich war damals 25. Damals sagte man, Frauen über 20 altern jedes Jahr für zwei (nijissai o sugiru to, onna wa futatsu zutsu toshi o toru). Ich hatte zirka zehn Heiratsinteressenten. Bei einigen war die Frau gestorben oder sie hatten kein Geld, alles Partien mit schlechten Voraussetzungen. Ein anderer, auch ein Arzt, war ein sehr frommer Buddhist und hatte mich sehr gern. Aber er hätte gerne eine ein bißchen hübschere Frau gehabt. Dann kam Tanaka. Warum er mich wollte, weiß ich nicht. Ihm gefiel, was ich schrieb. Er kam in unser Haus, um sich ein Manuskript von mir zu holen. Danach schickte er per express seinen Antrag. Das war sehr ungezogen.
Standesgemäß für mich wäre ein Arzt gewesen. Deshalb war die Verwandtschaft völlig gegen diese Heirat. "Ein Mensch, der solche Theaterstücke schreibt, kann nicht ein Mädchen aus gutem Haus heiraten". Aber seine Familie war reicher als meine. Sein Vater war Professor. Meine Mutter forschte an seiner Schule nach und kam darauf, daß er ein schlechtes Abgangszeugnis hatte. ,,Einen solchen Menschen kannst du nicht heiraten!" Mein Bruder aber sagte, ich hätte einen zu starken Willen und fände keinen anderen Mann, darum sollte ich ihn nehmen.
Viele Freundinnen gratulierten nicht, als ich heiratete. "Du hättest weiter studieren sollen. Warum heiratest du?" Aber ich war sehr neugierig, wollte selbst Theaterstücke schreiben und wollte alles erleben, was das Leben an verschiedenen Dingen bietet. Nach einem Monat reichte es mir schon und ich kehrte nach Hause zurück. Er holte mich zwei-, dreimal zurück. Er sagte: "Nicht nur du verlierst die Freiheit bei einer Heirat, auch der Mann". Das beeindruckte mich und ich dachte: "Er ist doch mehr wert als ich."
Die Mutter meines Mannes war sehr streng. Ich konnte nichts, war schlampig, sie erteilte mir dauernd Verweise. Wenn ich das meiner Mutter erzählte, schrieb sie postwendend: "Komm zurück, lasse dich scheiden!" Ich tue gern das Gegenteil. Hätte sie mir gesagt: ,,Halte durch, bleibe dort", wäre ich vielleicht weggekommen.
Das ging 15 Jahre so hin. "Komm zurück, komm zurück. In unserer Familie sind viele, die zurückgekommen sind." Aber diese Frauen waren sehr einsam. Sie mußten die Kinder in der Familie des Mannes zurücklassen. Diese Kinder wurden sehr unglücklich. Wenn ich das überlegte, wußte ich : "Für die Kinder muß ich bleiben."
Ich habe Tanaka geheiratet, weil ich ihn als Schriftsteller verehrte, aus Bewunderung. Ich bewundere ihn auch jetzt. Er hat eine Kraft zu schreiben, die für mich völlig unerreichbar ist. Wenn ich ihn nicht hätte bewundern können, hätte ich mich von ihm getrennt.
Ob Tanaka mich verehrte oder nicht, weiß ich nicht. Im Fernsehen hat er einmal über mich gesagt, er hasse die Hosen, die ich immer anhabe, und daß ich immer Pfeife rauche (lacht).
Aber das sind wohl kleine Dinge. Vielleicht hat ihm imponiert, daß ich gute Zeugnisse hatte. Aber er ist für mich der Lehrer. In vielem sind wir sehr verschieden. Ich steige seit 50 Jahren gern auf Berge, er steigt höchstens über die Bahnhofstiegen. Ich beneide Paare, bei denen der Mann beim Bergsteigen das Gepäck der Frauen trägt. Aber für Geld findet man auch solche Leute. Nur die Stärke allein ist nicht wichtig.
Ich bewundere es auch, daß er weniger spricht als ich. Er unterrichtet an der Universität, da redet er, aber wenig im Alltag. Ich bin ein "Redehaus". Ich mag Männer nicht, die viel reden. Er ist still.
Ich bin katholisch. Ich wollte, daß er sich taufen läßt. Sonst sind alle Familienmitglieder getauft. Er lehnte ab, aber er weiß mehr über die katholische Kirche als ich, er hat auch einige Dramen mit katholischen Themen geschrieben. Ich habe schon über 60 Bücher geschrieben, aber ich kann keine Dramen schreiben. Er hat Gaben, die ich nicht habe. Vielleicht sind wir deshalb beisammen. Unsere Ehe ist wirklich anders. Wir haben beide die Fähigkeit, eigenständig zu leben. Ich muß mir vom Mann nichts gefallen lassen. Es gibt keine Abhängigkeit von ihm.
Heute hat sich einiges geändert. Heute heiraten viele japanische Frauen erst mit 27 oder 28. Andere heiraten früh, können aber trotz Heirat ihr Talent entfalten. Tanaka hilft im Haushalt mit, er ist sauberer und ordentlicher als ich, aber gewöhnlich machen die Frauen die Hausarbeit allein. Man sagt, daß viele Frauen sich in der Ehe aufgeben. Daher gibt es viele begabte Frauen, die nicht heiraten. Sie lieben und leben mit jemandem zusammen, aber sie heiraten nicht und kriegen keine Kinder.

Warum heiraten?

Wenn man heiratet, legt man ein Gelübde ab. Der Gedanke, daß eine Frau für die Familie Opfer bringen muß, ist noch immer überwältigend stark. Nur Zusammenleben, ohne Heirat, heißt, daß man sich jederzeit trennen kann. Das ist für eine Frau ein sehr unsicherer Status. Menschen sind schwache Wesen. Wer nicht durch einen Schwur gebunden ist, wechselt sofort zum nächsten über, der einem gefällt - Mann wie Frau.
Ein Mann, der mit seiner Frau nur so zusammenlebt, nimmt keine Verantwortung auf sich. Wenn ich eine junge Frau wäre, würde ich ohne Heirat mit keinem Mann zusammenleben. Wenn Kinder da sind, sind klare Verantwortlichkeiten noch wichtiger. Es gibt Leute, die wollen ein Kind und es ist ihnen egal, wenn der Vater dieses Kindes verschwindet. Diese Kinder sind aber meiner Meinung nach zu bemitleiden. Insgesamt gibt es in Japan wenig Fälle von alleinstehenden Müttern, aber unter sogenannten "Talent-Frauen" ist das ziemlich häufig.

Die Schwiegermutter

Wir lebten nicht mit der Schwiegermutter zusammen. Sie war in Nagasaki. Wir lebten in Tôkyô und fuhren alle drei Monate einmal dorthin. Das war immer sehr steif, sehr gezwungen. Ich wurde dauernd zurechtgewiesen. Aber ich liebe Neues. Die Art und Weise, wie die Mutter meines Mannes mich zurechtwies, war von der Psychologie her äußerst geschickt! Zum Beispiel sagte sie: "Ich mag Frauen mit Brillen nicht." Wirklich bewundernswert, wenn man das zusammenbringt, so etwas zu sagen, obwohl ich Brillen trug!
Sie zeigte mir Fotos mit jungen Mädchen in langärmeligen Kimonos und sagte: "Mit der Familie dieses und dieses und dieses Mädchens gab es Heiratsgespräche!" Die waren alle schöner als ich. Ich sagte darauf: "Da wird die Frau Mutter aber enttäuscht gewesen sein!" So kämpften wir. Interessant. Dramatisch...
Die Mutter meines Mannes hatte viele Interessen. Der Vater war sehr höflich: "Wohin beliebst du heute zu gehen?" So höflich spricht man selten mit der Schwiegertochter. Das gefiel mir. Ich antwortete: "Ich erlaube mir jetzt, ein wenig das Haus zu verlassen." Die Schwiegermutter war sehr intelligent, obwohl sie nur die Volkschule besucht hatte, wie es damals üblich war. Sie kam aus dem Haus eines früheren christlichen Präfekturfürsten. Der Schwiegervater war Absolvent der besten Universität, der Tôkyô-Universität.
10 Jahre lang fuhren wir immer wieder nach Nagasaki. Der jüngere Sohn starb im Krieg, da waren die Schwiegereltern schon 70 und 80 Jahre alt. Sie taten mir sehr leid. Tanaka hatte sechs Geschwister, vier waren bereits gestorben. Ich behandelte sie dann sehr nachsichtig.

Die Kinder

Mein erstes Kind starb im Bauch. Darüber war ich sehr froh. Weil ich weiterhin frei war. Als ich nach einem Jahr wieder schwanger wurde, freute ich mich aber doch sehr. Ich wunderte mich, daß es solch ein Glück bedeutet, ein Kind zu haben. Meine Spezialität ist, daß ich sehr offen bin. Ich zeige meinen Ärger sofort, aber ich gebe auch sofort einen Irrtum zu und entschuldige mich.
Das Kind war wirklich lieb. Es wurde sehr krank. Hohes Fieber. Ich sagte, es wäre mir lieber, ich stürbe als das Kind. Meine Mutter meinte, es sei die Hauptsache, daß ich überlebe. ,,Du kannst wieder ein Kind kriegen, aber wenn du stirbst, ist alles aus." Offensichtlich war ich für die Mutter das Kind - ebenso wie meines für mich - und daher war ich für sie das Allerwichtigste.
Für die Liebe zu sterben, wäre mir unsympathisch gewesen, aber für mein Kind zu sterben, war für mich in Ordnung. Ich hörte mit dem Unterricht auf, als ich heiratete. Ich wollte selbst schreiben und mich weiterbilden. Eine Voraussetzung für die Heirat war, daß mir mein Mann soviel Taschengeld gibt, wie ich vorher verdient hatte. Das ging aber nicht. Die Schwiegereltern gaben nichts her. Meine Mutter sprang ein. Mein Schwiegervater war sehr reich, aber er war mit Tanaka nicht einverstanden. Er wollte, daß sein Sohn Arzt wird wie er selbst. Er war der Arzt des Landesfürsten gewesen. Tanaka setzte seinen Willen durch und studierte französische Literatur. Vor dem Krieg lebten wir trotzdem ziemlich sorglos. Aber durch den Krieg änderte sich unsere finanzielle Situation von Grund auf. Ich mußte wieder arbeiten. Während des Krieges ging der Wert des Geldes völlig verloren. Ich wurde Zeitungsreporterin. Mein Kind wurde krank, Gehirnhautentzündung. Die Operation kostete viel Geld. Wir verkauften Land. Es war eine sehr harte Zeit. Als Zeitungsreporterin hatte ich Mißerfolge. Ich war damals Ende 30, Anfang 40. Ich dachte oft an Selbstmord. Es war mir zuwider, vor Leuten den Kopf zu beugen und Geld zu nehmen. Ich schämte mich für dieses Leben. Eine so schwache Frau wie ich sollte sterben.
Mein Mann arbeitete während des Krieges in einer Fabrik. Weder meine Familie noch seine hatten nach dem Krieg irgendetwas, obwohl beide Familien sehr reich und einflußreich gewesen waren. Es war wirklich ein Bankrott. Was sollen wir als nächstes verkaufen, damit wir uns morgen Reis kaufen können? Ich hatte viele Kimonos. Die machte ich zu Reis und Bohnen.
Wir sind noch immer arm - verglichen mit der Zeit vor dem Krieg. Ich dachte früher, wenn kein Geld da ist, soferne man nicht arbeitet, ist man arm (lacht).
Ich habe drei Kinder. Der älteste Sohn sieht sehr schlecht und meine Tochter ist auch krank. Nur der zweite Sohn ist gesund. Ich bin gesund, mit 80 Jahren! Daß ich getauft bin, hat mir viel Stärke gegeben. Was sonst niemand weiß, sieht Gott. Wenn ich das denke, kommen mir die Tränen. Christus war noch unglücklicher als ich. Mein Glück ist, daß ich sehr neugierig bin. Alles ist für mich eine Herausforderung. Sogar, wenn mich das größte Unglück trifft, reizt mich diese Situation.
Ich weiß, daß ich zu einer Minderheit der japanischen Frauen gehöre. In Japan gibt es unter den Jungen wie auch unter den alten Leuten sehr viele Selbstmorde. Sie bringen sich um, weil sie sich vor der Einsamkeit fürchten. Ich liebe die Einsamkeit sehr. Ich liebe die Berge, weil ich dort einsam bin.
Nur die Einsamkeit gibt Freiheit. Nur, wenn ich einsam bin, kann ich nachdenken, was und wie ich will. Ich trinke und spreche mit dem verstorbenen Bruder, der Schwester, ich tanze allein. Das ist wunderbar. Ich lache, ich weine. Das ist das Schönste. Sicher, ich bin ein bißchen komisch. Das ist so, seit ich ein Kind war.
Es ist auch - es ist mir ein bißchen peinlich, das zu sagen - wunderbar, alleine zu beten. Ich habe noch nie gedacht, daß Alleinsein traurig ist. Meine Freundinnen allerdings sagen: "Du hast Mann und Kinder, darum ist dein Alleinsein schön. Das ist ein Luxus."

Die Ehe

Die Scheidungsrate ist seit 1935 um das Zehnfache gestiegen. Aber Scheidung zahlt sich nicht aus. Ich glaube, eine Ehe funktioniert nur, wenn die Wertvorstellungen zusammenpassen. Für uns beide ist offensichtlich am wichtigsten, gute Arbeit zu leisten. Und das Vertrauen in Gott. Wir machen uns um das Morgen keine Sorgen und schauen, wie es heute geht. Dadurch ist alles sehr hell. Niemand weiß, was morgen sein wird, außer Gott.
Ich bin mit meinem Mann jetzt 55 Jahre beisammen. Da kommen viele verschiedene Seiten zutage. Das ist gerade das Interessante. Meine Freundinnen sind fast alle geschieden. Sie können sich selbst ernähren. In Japan gibt es viele Scheidungen, die von den Frauen ausgehen, oft im Alter, wenn die Männer nach der Pensionierung im Haus sind und herumnörgeln. Das können sie nicht aushalten und trennen sich von ihm.
Mein Mann ist im Haushalt besser als ich. Er wäscht die Teller sauberer als ich. Ich lobe ihn und helfe ihm nicht. Es gibt auch unbequeme Dinge. Ich bin sehr unordentlich. Wenn ich von einer Reise zurückkomme, finde ich nichts mehr, weil er alles aufgeräumt hat. Da nehme ich alles wieder heraus, was er weggetan hat. Was Ordnung betrifft, sind wir grundverschieden. Scheidung ist unbequem, man muß seine ganzen Sachen einpacken...
Für mich ist eine Ehe auch Anschauungsmaterial. Ich kann mit jedem ins Gespräch kommen und muß nicht alles verstehen. Und für Kinder ist Scheidung sehr schlimm. Ich habe bei der Heirat geschworen, alles gemeinsam auszuhalten. Daran möchte ich mich halten. Nur, wenn er eine andere Frau liebte, würde ich mich sofort von ihm trennen. Das habe ich ihm auch angedroht. Viele betrügen ihre Frauen. In so einem Fall würde ich mich sofort entschuldigen.
Bei Tanaka und mir ist während des Zusammenlebens die Liebe dazugekommen. Verehrung. Aber nicht nur das: Dieser Mensch ist für mich nötig. Daher ist es auch in Ordnung, für diesen Menschen zu leiden und für ihn Opfer zu bringen. Das ist wohl Liebe. Bedauerlicherweise! (Lacht).
Früher gab es bei Scheidungen die sogenannte "Rückkehr der Frau", in ihre Herkunftsfamilie. Jetzt haben Frauen jede Menge Arbeitsmöglichkeiten. Die Regierung gibt Mutter-Kind-Familien einen Zuschuß. Verglichen mit früher ist es heute relativ einfach, sich scheiden zu lassen. Früher war die Heirat der Arbeitsplatz. Weil es heute in der Gesellschaft Arbeit für Frauen gibt, verlassen viele die Dienststelle "Ehe". Außerdem hat Ehe etwas mit Begriffen wie "durchhalten" (gaman suru), "Geduld haben" (shinbô-suru) und "ertragen" (taeru) zu tun. Das will heute niemand mehr. Wenn ich auf einen Berg steige, ist das anstrengend. Auch unter den Bergsteigern gibt es immer weniger junge Leute. Junge Leute haben Vergnügungen lieber, bei denen sie sich nicht so anstrengen müssen.
Ich glaube, das hängt mit dem Krieg zusammen. Er hat die Kraft der Japaner zerstört. Sie haben sich geplagt und sind doch besiegt worden. Das hat sie nihilistisch gemacht. Ich selbst bin ein Mensch, der weniger resigniert und eher wählt.
"Das ist nichts wert, daher verwerfe ich es. Das ist wichtig, daher wähle ich es. Mit dem finde ich mich ab, mit dem nicht." Bei Bergsteigen kann ich das Gefühl dafür entwickeln: "Das ist sehr wichtig, daher wähle ich diesen Weg." Aber ich finde es traurig, zu denken: "Ich resigniere, daher nehme ich diesen Weg." Das ist pessimistisch.
Für mich gibt es immer einen Wunsch für die nahe Zukunft. Ohne Wunsch kann ich nicht weitergehen. Auch unter den traurigsten Umständen denke ich mir: "Das ist zwar schlimm, aber auch interessant." Ich muß irgendein Licht suchen, bis zu dem ich es durchhalten kann. Es muß ein Gipfel da sein, nach dem ich strebe. Auch wenn es regnet, wird es sicher wieder schön. Hier ist vielleicht die Hölle, aber... Abgesehen davon, daß auch die Hölle sicher sehr interessant ist!
Deshalb kenne ich völlige Verzweiflung kaum. Ich habe als Zeitungsreporterin gearbeitet, Drehbücher geschrieben und wurde heruntergemacht und bekämpft. Ich verachte meine Kritiker. Ich glaube, daß ich mit dieser Konzeption eher wie ein Mann bin. In Frauen ist mehr Traurigkeit.
Ich glaube, japanische Frauen waren in der Geschichte sehr stark. Es gab früher weibliche Kaiser. Später hat man Frauen unterdrückt, weil sie allzu stark waren. Das setzte sich auch in der Meiji-Zeit fort. Frauen sollten zu Hause bleiben und Soldaten gebären. Erziehung kann Menschen verändern. Die Frauen hielten sich selbst für schwach. Aber in Wahrheit sind die japanischen Frauen überhaupt nicht schwach. Eher sind die japanischen Männer in vielen Punkten zerbrechlich und weich. Ich glaube aber, daß Männer und Frauen sich in ihren besonderen Eigenschaften unterscheiden. Weil Frauen die Kinder gebären und aufziehen, achten sie auf die kleinsten Dinge. Wenn man das mit einem Hausbau vergleicht, so machen die Männer die dicken Trägerpfosten, Frauen sind gut in der Innenausstattung.
Ich glaube, daß Frauen stark sind, aber Männer die mühsame Arbeit machen lassen. Das ist besser! (Lacht) Ein Arzt hat gesagt, er möchte meinen Körper nach meinem Tod untersuchen; wie sich mein Charakter im Körper ausdrückt. Ich habe 500 Berge bestiegen, es wäre schade, meine Knochen zu verbrennen, sie sollen als Material für die Forschung dienen.

1991 schreibt Sumie Tanaka, daß
sie merke, wie alt sie und ihr Mann geworden seien. Das größte Ereignis der letzten Jahre war, daß ihr Mann sich habe taufen lassen.
"Ab und zu denke ich mir, daß es für eine Frau wie mich, die gerne studiert und gerne auf die Berge steigt, Haushalt und Gartenarbeit aber verabscheut, besser gewesen wäre, allein zu bleiben. Aber weil ich nun einmal geheiratet habe, möchte ich diese Verantwortung auch übernehmen und im Alter meinem Mann zur Seite stehen."

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at