Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara

Kimi Komashaku, 63, Ôsaka, 18. August 1988

Ich desertierte.

Kimi Komashaku
Kimi Komashaku ist 1925 geboren und Professorin für moderne Literatur an der Hôsei-Universität, einer sehr renommierten, als links geltenden Privatuniversität in Tôkyô. Gleichzeitig hat sie sich mit Büchern zur Frauenfrage einen Namen gemacht: "Majo no ronri" (Hexenlogik, 1978), "Tsumatachi no fukushu - rikon kara kekkon o kangaeru" (Die Rache der Ehefrauen. Betrachtungen über die Ehe von der Scheidung her gesehen, 1980) etc..
Befreundet ist sie mit Aya Konishi, geboren 1904, einer Aktivistin der Frauenbewegung. Beide Frauen sind in der "Senior-House-Bewegung" tätig. Diese betreibt in Privatinitiative geführte Wohnheime für Menschen, die auch im Alter selbständig leben wollen. Unser Gespräch findet im Appartement von Frau Konishi im Senior House von Ôsaka statt.
Als der Krieg aus war, war ich 20 Jahre alt. Japan hatte verloren. Demokratie und Individualismus kamen nach Japan. Und die Gleichheit von Mann und Frau. Damals kam ich zum ersten Mal mit solchen Begriffen in Berührung. Frauen konnten nun gleichberechtigt studieren und zur Wahl gehen. Die Sehnsucht nach der Gleichheit hat mich niemand gelehrt, sie ist ein Instinkt, das wünscht sich jede und jeder. Es war, wie wenn in etwas Ausgetrocknetes Wasser käme. Die Gleichheit von Mann und Frau, diese vier japanischen Zeichen dan-jo-byô-dô, haben mich ungeheuer erfüllt. Ich dachte also, daß es von nun an Gleichheit von Mann und Frau geben werde. Gut, das Wahlrecht, das hatte sicher mit Gleichheit zu tun, aber wobei ich dabei am meisten dachte, war Hausarbeit und das Heiratsalter für Frauen.
Die Ehen, die ich sah, bedeuteten für die Frauen, ins Haus gehen und Reis kochen. Das sollte ich ein ganzes Leben lang machen? Das wäre zum Verzweifeln. Ich dachte: "Wenn ich dem entfliehen kann, möchte ich fliehen." Aber wer keine Familie gründet, kommt im Alter ins Altersheim. Gut, dagegen kann ich eben nichts machen. Heirat war mir zuwider. Ich desertierte. Aber wie sollte ich unverheiratet leben? Meine Antwort war: "Ich muß etwas lernen, es gibt keinen anderen Weg." Bis zu diesem Zeit hatte ich mich als Passivum betrachtet. Ich hatte das Heiratssystem in dieser Gesellschaft als vorbestimmt für Frauen betrachtet. Nun begriff ich deutlich, daß die Gesellschaft die Menschen so formt wie sie sind. Ich besuchte ein Art Schule für Kulturwissenschaft in Kyôto, ging dann nach Tôkyô und suchte Arbeit. Aber ich fand keine, die meinen Vorstellungen entsprach. Offensichtlich war es nötig, auf die Universität zu gehen. So begann ich mit 28 an der Hôsei-Universität zu studieren.
Erst nach dem Krieg war ein Universitätsstudium für Frauen möglich geworden. Ich machte mein Studium schnell fertig, hatte aber noch immer keine Lust zu heiraten. Ich studierte weiter. Damals gab es kaum Professorinnen. Nirgends. Ich dachte daher gar nicht daran, daß ich das werden könnte. Auch die Professoren sagten immer: ,,Du kannst nicht angestellt werden, weil du eine Frau bist (onna da kara)! Aber du kannst es als Assistentin versuchen." Ich war die erste Assistentin, zuerst nicht angestellt. Die Männer, die mit mir studiert hatten, stiegen langsam auf. Es tat ihnen leid um mich, und sie forderten mich auf, durchzuhalten. Fünf Jahre vergingen so, 1970 wurde ich dann als vollwertiges Mitglied in den Lehrkörper der Hôsei-Universität aufgenommen. Damals war ich 45 Jahre alt. Ich unterrrichtete japanische Literatur.
Es gab natürlich Frauenbewegungen in Japan. Zum Beispiel den "Kampf der Mütter" und die Frauenbewegung der Arbeiterschaft. Aber für mich paßten diese Bewegungen nicht. Ich wollte nicht heiraten und keine Kinder. Es gab keine Bewegung in diese Richtung. "Das muß ich selbst machen, es bleibt mir nichts anderes übrig", dachte ich. Zu diesem Zeitpunkt kam gerade "Das andere Geschlecht" von Simone de Beauvoir in Japan heraus, in dem alles, was ich hätte sagen können, hundertmal besser ausgedrückt war. Wenn ich das Buch jetzt lese, sehe ich, daß Beauvoir noch nicht ganz erwacht war. Aber damals hat mich dieses Buch doch weit mehr bewegt als alles, was die japanische Frauenbewegung bisher hervorgebracht hatte. Die Arbeit an der Universität ist relativ privilegiert. Wird man einmal aufgenommen, gibt es keine auffällige Ungleichheit mehr. Das Frauenproblem trat für mich also etwas in den Hintergrund. Die Studentenbewegung kam und die Autorinnen der amerikanischen Frauenbewegung, Firestone, Millet etc. wurden übersetzt. Nun mußte ich tun, was ich mir vorgenommen hatte. Bisher hatte ich konventionelle Literaturwissenschaft gemacht. Von jetzt an wollte ich die Literatur vom feministischen Standpunkt aus betrachten. Als "Majo no ronri" (Hexenlogik) erschien, hatten die Frauen bereits seit 30 Jahren das Wahlrecht.
Von der Studentenbewegung lernte ich, wie ich etwas sagen muß und vor allem, daß ich sagen muß, was ich selbst denke. In mein erstes Buch schrieb ich, was ich seit 20 Jahren gedacht hatte, ich schrieb es sozusagen aus dem Bauch. Es war kein wissenschaftliches Buch. Diese Art zu schreiben kam damals von Amerika zu uns. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich eine Maske getragen, das aber verdrängt und eine der Gesellschaft angepaßte Sprache gesprochen - ohne daß ich das selbst bemerkt hätte.
Ich entschloß mich, nun mein Innerstes nach außen sichtbar zu machen (honne o dasu). Ich bin relativ feig. Gegenüber meinen Kollegen sprach ich über diese Dinge nicht. Aber es ist leicht für mich, in ein Buch zu schreiben, was ich denke. Die Kollegen lesen solche Bücher nicht, die Frauenbewegung war völlig außerhalb ihres Interesses.
Ich bin aus Ôsaka und habe die Neigung, mich immer für alles entschuldigen zu wollen. "Sumimasen (Entschuldigung)" geht mir leicht über die Lippen. Die Leute von Ôsaka waren Kaufleute, sie hielten den Kopf gesenkt. Ich vermeide es auch, die Leute zu provozieren. Die jetzigen jungen Leute sind in diesem Punkt sehr offen.
Aber in meiner Arbeit, in meinen Büchern und in meiner Lebensführung mache ich, was ich wirklich will. Ich lebe seit 1951 mit Frau Konishi zusammen. Sie macht Gruppenarbeit mit jungen Leuten. Ich lernte sie in Ôsaka an einem Internationalen Frauentag kennen. Sie hielt einen Vortrag und wurde mir vorgestellt. Sie war schon vor dem Krieg in der Frauenbewegung tätig gewesen. Wir machten in verschiedenen Kulturzentren gemeinsam Kurse für Frauen. Als Frau Konishi nach Tôkyô ging, ging ich auch nach Tôkyô. In den letzten zehn Jahren ist sie alt geworden, über achtzig, und versammelt die Leute bei sich zu Hause, zum Beispiel eine "Gruppe zum Zeitunglesen". Angesprochen war alle Frauen, aber es kamen nur ledige, alleinstehende Frauen, einige hatten Liebhaber, aber keine einen Ehemann. Sie können bleiben und diskutieren, solange sie wollen.
Ich möchte gemeinsam mit Frau Konishi in Ôsaka ein Kulturzentrum für Frauen zu machen. Wir wollen einen Saal, in dem 80 bis 100 Frauen Platz haben. Wo man Musik und Kurse machen kann. Es soll eine Art "feministische Nachhilfeschule" (feministo no juku) sein.
Mein Spezialfach ist Literatur. Ich möchte Literatur mit feministischen Augen lesen. Hier sind die historischen Zentren Kyôto und Nara nahe, wir können die alten Tempel mit femininistischen Augen betrachten. Was wir auch sehen, können wir von diesem Standpunkt aus korrigieren. Wir Frauen haben ja erst angefangen, die Welt mit unseren Augen anzuschauen.

Das Frauenzentrum

Die Arbeit in diesem Frauenzentrum soll nicht nur vom Kopf ausgehen, sondern auch eine "Befreiung des Herzens" sein. Ein Ort soll entstehen, der dazu beiträgt, die Menschen als Ganzes zu befreien - wenn man es sehr großspurig ausdrückt. Mit Musik und Tanz, Theater und Show. Ich bin auch Sängerin und Liedermacherin! Ich mache Lieder mit Botschaften. Wir müssen populärer werden, damit ein allgemeines Publikum die Botschaft annimmt. Das alles ist erst in der Vorbereitung. Die Grundstückspreise sind in Ôsaka sehr hoch. Eigentlich wollten wir auch einen Garten anlegen, aber diesen Traum haben wir aufgegeben. Das Haus soll an einem verkehrsmäßig bequemen Ort liegen. Wir sind in der Planungsstufe. Ich könnte bis 70 an meiner Universität bleiben, aber ich werde vielleicht emeritieren und nach Ôsaka übersiedeln, wenn das Frauenzentrum fertig ist. Hier ist alles noch sehr konservativ, der Feminismus ist noch kaum vorhanden. Es gibt Frauengruppen, aber verglichen mit Tôkyô sehr wenige. In Japan gibt es viele Bewegungen, für Umweltschutz und Frieden, alle diese werden der Frauenbewegung zugeordnet, aber meiner Meinung nach gibt es kaum eine wirklich feministische Gruppe.
Die Geschlechterdiskriminierungen aufzudecken und abzubauen ist sehr schwierig. Ich möchte dafür eine Grundlage errichten.

Ich selbst denke seit zirka 20 Jahren in ähnlicher Weise. Meine Jugend fiel in eine für die Frauen unglückliche und tragische Zeit. Es war eine Zeit des Erduldens und der Tränen. Jetzt haben wir eine glückliche Zeit für Frauen. Von Glück spreche ich mit Zynismus. Früher wurde die Tragödie der Frauen als Tragödie bezeichnet. Jetzt spricht man von einer erfreulichen Zeit. Auf den ersten Blick sind die Männer sanft (yasashii) geworden und tun auch bei der Kindererziehung mit. Wirtschaftlich geht es ziemlich gut. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck von Glück. Aber wer irgendwo nach innen dringt, sieht die alten Widersprüche, die es schon immer gegeben hat - die Vorrechte des Ehemannes. Das Patriarchat. Das lebt noch immer. Gewalt in der Familie. Auch unter jungen Leuten gibt es anscheinend wenig Frauen, die vom Mann nicht mißhandelt werden. Diese Frauen denken: ,,So sind die Männer (otoko da kara), das ist normal." Und verzeihen. Auch daß der Mann eine Geliebte hat, ist normal. In verschiedenster Form halten die Frauen alles Mögliche aus. Immer schon haben die Frauen in der Familie gearbeitet. Jetzt arbeiten sie auch in der Gesellschaft draußen und sind doppelbelastet. Dieser Inhalt des heutigen Glücks muß klarer aufgezeigt werden. Auf sexuellem Gebiet gibt es die Pornokultur, Vergewaltigung, Belästigung. Frauen sind Sexualobjekte.
Ich möchte die Leute aufklären, daß das alles zur Frauendiskriminierung gehört. Die Feministinnen arbeiten alle zerstreut, hier und dort, über dieses oder jenes Symptom der Frauendiskriminierung. Ich möchte auf möglichst leicht verständliche Art zeigen, wie alles miteinander verbunden ist, Begriffe wie Moral und Weiblichkeit durchleuchten. Mein Ziel ist, den Umriß des gesamten Systems aufzuzeigen.

Das Fundament der Diskriminierung ist die Hausarbeit

Von außen schauen die Ehepaare glücklich aus. Viele Frauen sind auf den Arbeitsmarkt ausgebrochen. Dort gibt es wieder Unterschiede in der Entlohnung und in den Aufstiegschancen. Aber diese Diskriminierungen sind auf den ersten Blick sichtbar.
Was Frauen zu Hause tun, ist nicht so leicht zu durchschauen. Dieser Bereich hat immer schon zu den Frauen gehört.Sie sind zwar nicht begeistert, aber sie nehmen das auf sich: ,,Weil ich als Frau geboren bin muß ich... Teller waschen, Essen kochen." Es ist ein geschicktes Sklavensystem. Daran hat sich auch in der Gegenwart kaum etwas geändert. Wieviele Frauen auch arbeiten gehen, zu Hause machen sie doch immer noch dieselbe Arbeit. Für mich ist das Fundament Nummer eins der Geschlechterdiskriminierung die Hausarbeit. Alles kommt daher, auch die ungleiche Bezahlung - weil die Frauen von ihren Männern ernährt werden können. Sie brauchen nicht zu arbeiten, und wenn sie es doch tun, reicht es, wenn man ihnen die Hälfte zahlt. Ich glaube, jetzt ist auch in Japan die Zeit der Nora von Ibsen gekommen. Vielleicht 100 Jahre verspätet, aber doch endlich.

Warum Frauen und Männer heiraten

Frauen und Männer heiraten offensichtlich wegen der Illusion "Familie". Weil man glaubt, daß das Leben zu zweit Glück und das Leben allein Unglück bedeutet.
Aber ich habe unter den Freundinnen meines Alters bisher keine getroffen, die mir sagt, sie habe ein glückliches Leben gelebt. Trotzdem halten die Frauen an dieser Illusion fest. Wenn sie sich einmal scheiden lassen, denken sie: ,,Vielleicht ist der nächste besser. Wo ist der "Onkel des Glücks"? Das ist wahnsinnig tief eingewurzelt. Wenn ich das umgekehrt anschaue, von der Gesellschaft, der Politik her, so würden alle Widersprüche in der Gesellschaft aufgesaugt werden, wenn die Familie aufgesaugt würde. Auch die Frauen aus Vietnam, die in Japan arbeiten, kommen wegen ihrer Familie, sie möchten Mutter und Vater Geld schicken. Es gibt wenige, die das für sich selbst machen.
Nicht die Familie ist aber das Glück, sondern, daß jede und jeder eigenständig lebt und gleichzeitig irgendjemandem verbunden ist. Wenn jeder Mensch unabhängig ist, wird die Familie überflüssig. In Japan liegt die wichtigste Wurzel des Unglücks im Familienbild. Zum Beispiel redet die Umgebung einem Kind ohne Mutter ein: ,,Du bist arm. Du bist einsam." Selbst wenn das Kind ganz glücklich wäre. Wenn Leute nicht paarweise leben, nimmt man an, daß sie unglücklich sind...
Der Inhalt dieser "Illusion von der Familie" ist, daß sie Glück schafft. Der Traum von Heirat und Familie. Liebe ist es, was Frauen vor sich sehen. Liebe. Liebe, die sexuelle Liebe inbegriffen. Daß Mann und Frau einander lieben, ist die höchste Form der Liebe in den menschlichen Beziehungen. Dieser Glaube läßt die Gesellschaft so weiterfließen, wie sie jetzt ist. Aber es gibt auch Liebe unter Freunden. Es gibt alle möglichen Arten der Liebe. Doch die Ehe ist das Symbol der Liebe zwischen Mann und Frau und des höchsten Glücks.
Vom Ideal her ist die Ehe heute mit Liebe und Glück verbunden. In der Wirklichkeit ist es noch immer der wirtschaftlichste Weg für Frauen, sich zu ernähren. Und für Männer, daß ihnen jemand den Reis kocht. Es gibt einen bekannten Denker, der sagt: "Daß Frauen in die Gesellschaft hinausgehen und arbeiten, ist in Ordnung, ich bin nicht dagegen, nur, wer kocht uns den Reis?"
Die Wahrheit ist, daß die Männer eine Frau brauchen, die ihnen die Betten und die Hausarbeit macht und die Kinder erzieht. Frauen wiederum könnten ohne Geld des Mannes kein Mittelschicht-Leben führen. Wenn sie heiraten, wird das möglich. Heirat ist Dienstantritt. Ich glaube, daß das auch bei jungen Leuten nicht viel anders ist. Früher stand bei der Eheschließung eindeutig die wirtschaftliche Sache im Vordergrund. Liebe gab es in meiner Generation als Heiratsgrund kaum. Heiraten war ein Weg der Existenzsicherung. Es gab damals keinen anderen Weg für Frauen. Jetzt ist die Illusion von der Liebe größer geworden. Liebe ist die Beziehungsform, die am meisten akzeptiert wird. Sie führt auch leicht zur Täuschung, oder? Ich denke an wirklich intime, vertraute Beziehungen. Liebe ist eine Illusion. Offensichtlich sitzt das tief im Menschen: ,,Allein leben heißt einsam sein." Man wünscht sich jemanden, mit dem man sich gut versteht und glaubt, daß dieser Wunsch durch Liebe erfüllt werden kann.
Früher war die Eltern-Kind-Beziehung im Zentrum. Diesbezüglich hat sich eine Verschiebung ergeben. Aber auch noch heute wird die Liebe zwischen Mutter und Kind gefördert. Im Erwachsenenalter ist es die Beziehung vom Mann zu seiner Mutter, die übrig bleibt. Die Tochter muß damit fertigwerden. Vertraut sind der Mann und seine Mutter. Die Frau möchte mit dem Mann ein vertrautes Verhältnis haben, der Mann aber hat dieses mit seiner Mutter. Die Frau bleibt allein und ist mit niemandem vertraut.
Ich glaube, wir sind in Japan in einer Situation, in der man das langsam zu sehen beginnt. Es gibt jetzt immer mehr Frauen, die mit dem Körper diesen Widerspruch spüren lernen.
Die japanischen Frauen sind jetzt dort, wo die amerikanische Frauenbewegung angefangen hat. Ich glaube, daß wir in Japan so eine Bewegung wie die NOW in Amerika nicht zusammenbringen. In Japan gibt es wenig Revolutionen. Bei uns gehen die Dinge ratenweise vor sich. Viele junge Frauen träumen noch von Ehe, aber die Fähigkeit, die Wirklichkeit zu erfassen, hat stark zugenommen.
Frauen früher dachten, es gebe keinen anderen Weg, als das Unglück auszuhalten (akirameru). Heute hingegen geben Frauen etwas schnell auf, wenn sie sehen, daß es ihren Vorstellungen nicht entspricht. Heute ist die Möglichkeit für Frauen, sich durchzusetzen, größer geworden. Die Gesellschaft gibt den Frauen die Möglichkeit, sich selbst zu ernähren. Es gibt Arbeitsplätze. Und in den Büros im Zentrum von Tôkyô sind sowohl Männer wie Frauen zu 80% ledig. Die Situation bewegt sich. Das Glück kommt nicht vom Ehemann, sondern es wird selbst gemacht.
Das größte Problem in Japan ist, daß es keine Kommunikation gibt. Die Frau, die in der Familie lebt, möchte zwar sprechen, aber es gibt niemanden, der ihr zuhört. Der Mann ist kein Gesprächspartner. Ein Mann ist sanft (yasashii), wenn er nicht gewalttätig ist und nicht mehr ,,He du... " sagt. Aber auch mit so einem Mann findet meistens kein Gespräch statt. Die Frauen warten sehr darauf, daß sie reden können. Viele kommen zu uns und möchten nur reden.
Viele Frauen haben niemanden, bei dem sie sich über ihre Gefühle äußern können. Sie sind isoliert. Es gibt immer mehr Frauenaktivitäten. Aber auch, wenn Frauen gemeinsam einkaufen, können sie einander nicht ihr wahres Gesicht und ihre wahren Gefühle zeigen. Bei Klassentreffen plaudern sie, aber "das Herz öffnen", Freundschaften schließen... auch das wird durch die Illusion der Familie behindert. Auch guten Freunden will niemand Unzufriedenheiten zeigen. Die Frauen tun, als ob sie glücklich wären.
Aber, wie gesagt, es bewegt sich etwas. In Japan entsteht eine Bewegung nicht plötzlich. Aber die Gesellschaft hat sich einem weltweiten Trend angeschlossen.
Ich spüre das selbst. Als ich "Hexenlogik" herausbrachte, wurde ich von einer Männergruppe eingeladen. Sie brachten keine Gegenargumente vor, es bestand eine Mauer. Sie wollten die Gefühle, die meine Worte vielleicht ausgelöst hatten, nicht hereinlassen. Aber jetzt ist diese Mauer weg, das ist wunderbar! Die Männer hören zu. ,,Hm, hm, hm", sagen sie. Ob sie zu Hause Teller waschen, weiß ich nicht. Aber sie zeigen zumindest Billigung gegenüber einer Frau, die so spricht wie ich.

Erfahrung mit Liebe

Ich hatte Einwände gegen die Ehe, wenn auch nicht gegen die Liebe. Aus diesem Grund habe ich mich nicht sehr um Männer gekümmert. Aber mit zirka 30 habe ich mich in jemanden verliebt. Er war ein Intellektueller. Das zog sich lange hin. Ich wurde krank, bekam eine Neurose. Ich habe nie gedacht, ihn zu heiraten. Er hatte eine Frau, eine, die ihm Reis kochte, das brauchte mich nicht zu beunruhigen. Reiskochen ist mir auf jeden Fall unsympathisch. Es war sehr schwierig, weil er verheiratet war. Er war zehn Jahre älter. Wir haben uns gegenseitig viele Wunden zugefügt...

Kimi Komashaku fand Zeit, mir auf jede meiner Anfragen zu antworten, obwohl sie im März 1991 ein neues Buch1) herausbrachte und das geplante Frauenhaus eröffnet wurde.
Im April 1990 emeritierte sie von ihrer Universität und bezog im Dezember 1990 eine Wohnung im "Senior-House" von Ôsaka.

1) "Murasaki Shikibu no messeji" (Die Botschaft der Murasaki Shikibu), eine feministische Deutung der Werke von Murasaki Shikibu.
Murasaki Shikibu war die Dichterin des "Genji monogatari" ( Die Geschichte vom Prinzen Genji)


Im Februar 1991 schrieb Kimi Komashaku:
In diesen zwei Jahren haben sich die Männer außerordentlich geändert. Daß Männer im Supermarkt einkaufen, ist etwas völlig Normales geworden, und auch in der Arbeit scheint man auf die Forderungen der Frauen zu hören. Auch gibt es auf einmal viel weniger Werbungen, in denen man sinnlos Frauen benützt.

Und im März 1991 schreibt sie:
Das neue Frauenhaus (umanzu-hausu) ist ein neu errichtetes sechsstöckiges Gebäude. Im Parterre und im ersten Stock ist eine Buchhandlung (Kinder- und Frauenbücher), in zweiten Stock ist ein Saal für verschiedenartige Veranstaltungen wie Konzerte, Parties, Filme- oder Theateraufführungen etc. (für 100 bis 150 Personen).
Am 2. Februar haben wir den Saal eingeweiht. Zum Eröffnungsfest sind viele Menschen gekommen. Seither hatten wir jeden Tag ein Konzert oder eine andere Veranstaltung und ich bin schon recht erschöpft. Im April wird im Frauenhaus eine Frauenschule (umanzu sukuru) mit verschiedenen Kursen eröffnet.
1985 hatten wir ein unter dem Motto "Frauen-Renaissance, Teil II" ein Variete-Programm "Die wunderbare Reise ins Jahr 2020". Dafür machte ich das folgende Lied:

Das Frauenschiff
Lichtet den Anker.
Jetzt fährt das Frauenschiff
aus dem Hafen der Morgendämmerung.

Die früheren Freuden, den früheren Kummer,
alles alles ladet auf.
Die Frauen brechen auf, gegen den Wind,
in die Zukunft brechen sie auf.

Lichtet den Anker.
Jetzt fährt das Frauenschiff
aus dem Hafen der Morgendämmerung.

Die alten Erinnerungen, die alten Zeiten,
alles alles ladet auf.
Die Frauen brechen auf, gegen die Wellen,
in die Zukunft brechen sie auf.

Ruth Linhart | Japanologie | Onna da kara Email: ruth.linhart(a)chello.at