Ruth Linhart
Der Traum vom Glück - Liebe, Sex und Partnerschaft
Der Traum
vom Glück? Ein Blick in japanische Frauenzeitschriften, speziell in solche
für ein junges Publikum, zeigt, wie dieser noch immer aussieht (oder
aussehen soll) : Hochzeit, Honeymoon. Aber was kommt danach?
Heirat ist,
sehr verallgemeinernd gesprochen, noch immer der Glückstraum junger
Frauen, sagt mir eine japanische Freundin im Gespräch. Doch dieser Traum
vom Glück ändere sich mit dem Alter, die Glückserwartungen
würden an die eigene Lebenssituation angepaßt. Anders
ausgedrückt, die Frauen bauen sich nicht ihr eigenes Glück, sondern
rationalisieren ihr Leben in Glück um.
Doch bevor ich in bezug auf die
Begriffe Ehe, Liebe, Partnerschaft und Sexualität etwas mehr ins Detail
gehe, möchte ich einige Bemerkungen vorausschicken:
60 Millionen
Menschen - so viele Japanerinnen gibt es ungefähr - auf wenigen Seiten
hinsichtlich eines so fundamentalen Lebensbereiches zu charakterisieren, ist
ein Versuch, der an vielen Lebensrealitäten japanischer Frauen vorbeigeht.
Dazu nur ein Beispiel: Eine japanische Bekannte hat nach der Schule nicht
in ihrem Heimatort studiert. Sie genoß ein relativ freies Leben an der
Universität und entwickelte sich in den Jahren des Studiums in eine andere
Richtung als ihre ehemaligen Mitschülerinnen. Sie konnte bald die
Lebenspläne und Motivationen dieser jungen Frauen, die unter der Obhut und
Kontrolle der Eltern geblieben waren, nicht mehr verstehen. Ihr Traum vom
Glück sieht völlig anders aus als jener der früheren
Freundinnen. Hier handelt es sich um Frauen desselben Jahrganges, sozialen
Hintergrundes und Bildungsstandes. Man kann sich vorstellen, wie
verschiedenartig die individuellen Erwartungen ans Leben erst recht dann sind,
wenn Alter, sozialer Stand, Bildung etc. sich unterscheiden. Insgesamt kann man
sicher sagen, daß die japanischen Frauen, was Lebensplanung und
Lebensgestaltung betrifft, heute weniger uniform sind als je zuvor. Dieser
Umstand sollte bei der Lektüre der folgenden Seiten stets bedacht werden.
Sehr wichtig ist der Aspekt des Wandels, und zwar in zweifacher Hinsicht:
Der Wandel innerhalb der Generationen ist äußerst groß. Die
heute 25jährigen Frauen wurden nach 1960 geboren und von Müttern
erzogen, die selbst bereits nach dem Zweiten Weltkrieg sozialisiert worden
sind. Diese jungen Frauen sind die erste Generation, die
verhältnismäßig losgelöst von den traditionellen Normen
der Frauenerziehung aufgewachsen ist. 1945 kann diesbezüglich als
tiefgehender Einschnitt betrachtet werden.
1
Alte Frauen, Frauen in der Lebensmitte und junge vor der Entscheidung zur
Ehe vertreten andere Ansichten und handeln jeweils anders in bezug auf Liebe,
Sexualität und Partnerschaft. Dies bedeutet, daß die Kluft im
Verständnis zwischen den Generationen groß sein kann. Wandel ist
auch im Lebenszyklus der einzelnen Person ein wichtiges Moment. Der Traum vom
Glück mit 17 sieht anders aus als jener mit 45. Es ist außerdem
nicht abzusehen, ob die Generation der jungen Frauen zwischen 20 und 30
tatsächlich ein so anderes Leben führen wird als ihre Mütter,
wie es ihren Erwartungen entspricht. Das hängt unter anderem weitgehend
davon ab, welche ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen auf sie
zukommen.
Ein Zweck meines Beitrags ist, die gängigen Klischees
über « die Japanerin » in Frage zu stellen. Das gelingt
relativ gut, wenn beim Lesen (oder Schreiben) immer auch der Bezug dazu gesucht
wird, wie die Sehnsucht nach Glück bzw. die Umsetzung in die Realität
bei einem selbst beziehungsweise bei Frauen in unserem Kulturraum aussieht.
Sarada kinenbi - Salat-Erinnerungstag
Ein Buch ist derzeit in Japan ein Bestseller, seit seinem Erscheinen
1987 wurden Millionen Exemplare verkauft: Sarada
kinenbi
(Salat-Erinnerungstag)
2 .
Das ist eine
Sammlung von Gedichten, die von der zum Erscheinungszeitpunkt 25-jährigen
Tawara Machi geschrieben wurden. Menschen aller Generationen greifen zu diesem
Buch. Am meisten scheint es Frauen um 30 anzusprechen.
Imai Yasuko, eine
Literaturwissenschaftlerin, interpretierte den Erfolg; diese Gedichte seien
nicht nur aktueller Ausdruck weiblicher Sinnlichkeit, sondern: «Es gibt
niemanden, der in Gedichten bisher über derartige Gefühle von Frauen
geschrieben hat; Gefühle der Fremdheit zwischen Männern und Frauen,
der Andersartigkeit im Stadium der Liebe, Empfindungen zur Zeitpunkt der
Beendigung einer Liebe» (in einem Brief, 6.11.1987).
Ich möchte
zur Einstimmung, ziemlich wahllos herausgegriffen, fünf Gedichte aus
Salat-Erinnerungstag von Tawara Machi vorstellen (Ta wara 1987, S. 8,
47, 125, 177 u. 178) :
Sora no aoumi no aosa no sono
awai säfubödo no kimi o mitsumeru
In diesem hellen Streifen zwischen der Bläue des
Himmels
und dem blauen Meer, seh ich dich,
Liebster, auf dem Surfbrett.
Yasashisa o umaku hyögen dekinu koto yurusarete
ori chichi no sedai wa
Die Generation meines Vaters, der man es verzieh,
daß sie Zärtlichkeit schwer ausdrücken
konnte...
«Kono aji ga ü ne» to kimi ga itta
kara shichigatsu muika wa sarada kinenbi
«Das schmeckt wirklich gut»,
weil du das gesagt hast, Liebster,
ist der
sechste Juli Salat-Erinnerungstag.
Chümon wa itsumo futatsu no amerikan söshi
sösatsu ka mo shirenai ne
Bestellt haben wir immer beide American Coffee.
Vielleicht heißt
einander lieben einander
töten.
Aisareta kioku wa dokoka tömei de itsudemo hitori
itsudatte hitori
Die Erinnerung, daß ich geliebt worden bin,
irgendwo durchscheinend klar,
immer allein,
für immer allein.
Die Gedichte von Tawara Machi fassen den Traum von Glück, den
viele Frauen sich selbst nicht auszusprechen, ja nicht einmal einzugestehen
trauen, in Worte. Die Gedichte sprechen von einer Sexualität, die nicht
«eheliche Pflicht» ist, sondern mit Liebe verbunden. Daß
viele Frauen zwischen «Liebe» und «Ehe» stark
unterscheiden, beweist unter anderem der
More-Report über weibliche
Sexualität, Ergebnis einer Befragung von mehr als 5000 Japanerinnen.
Über 4000 antworteten auf die Frage, womit sie den Begriff
«Sex» verbinden, «mit Liebe», nur etwa 1000 ordneten
Sexualität der «Ehe» zu (Horiuchi 1983, 5.571, siehe Tabelle
1).
Die Gedichte der Tawara Machi machen auch die Unfähigkeit zur
Zärtlichkeit der älteren Männer zum Thema, sprechen offen von
vorehelichem Sex und behandeln Liebesbeziehungen als zeitlich begrenzt. Tawara
formt jene Probleme in poetische Worte, die heutige junge Frauen in ihren
Partnerbeziehungen erleben.
Allein zu leben war für japanische Frauen
der älteren Generation keine Alternative zur Ehe. Sie hatten weniger
Schulbildung, selten eine Berufsausbildung; ökonomischer und sozialer
Druck machten Heirat zur fast ausschließlichen Möglichkeit der
Existenzsicherung. Heute wagen Japanerinnen in wachsender Zahl, das
Allein-Leben wenigstens zu versuchen. Mehr Frauen als früher bleiben
lieber allein, als dem Ideal der «braven Frau» zu entsprechen
(Tabelle 2). Andere beenden Beziehungen oft nach langer Ehe.
3 Die Bereitschaft, eine Beziehung aufzugeben,
schließt die Bereitschaft zu Schmerz mit ein. Auch diesen Schmerz hat
Tawara Machi in ihren Texten eingefangen. Trauer ist oft verbunden mit dem Weg
zur sozialen und psychischen Unabhängigkeit, deren Voraussetzung
ökonomische Unabhängigkeit ist. Alle drei Faktoren -
ökonomische, soziale und psychische Unabhängigkeit - ermöglichen
aber erst eine wirklich selbständige Existenz.
4
Tabelle 1: Mit welchen Dingen verbinden Sie Sex? |
|
ohne
sexuelle Erfahrungen |
mit
sexuellen Erfahrungen |
Anzahl
befragter Frauen |
Liebe |
201 |
4049 |
4250 |
Lust |
174 |
3418 |
3592 |
Schwangerschaft |
174 |
2527 |
2701 |
Ehe |
107 |
993 |
1100 |
Reproduktion |
62 |
577 |
639 |
Sport |
17 |
583 |
600 |
Geburt |
38 |
444 |
482 |
Ausscheidung |
21 |
438 |
459 |
Sonstiges |
20 |
245 |
265 |
Quelle: Horiuchi Sueo (Hg.): Moa. Ripöto-The More
Report on Female Sexuality. Tökyö 1983, S. 571.
Tabelle 2: Anteil der Ledigen (niemals Verheirateten)
|
Altersgruppe/Jahr |
1950
|
1955
|
1970
|
1985
|
15 - 19 |
96.6
|
98.2
|
97.8
|
99.0
|
20 - 24 |
55.3
|
66.1
|
71.3
|
81.1
|
25 - 29 |
15.2
|
20.2
|
18.1
|
30.4
|
30 - 34 |
5.7
|
8.0
|
7.2
|
10.1
|
35 - 39 |
3.0
|
4.0
|
5.8
|
6.6
|
40 - 44 |
2.0
|
2.4
|
5.3
|
4.9
|
45 -49 |
1.5
|
1.7
|
4.1
|
4.4
|
50 - 54 |
1.3
|
1.3
|
2.7
|
4.5
|
55 - 59 |
1.1
|
1.1
|
2.0
|
4.4
|
Anteil der Ledigen in den jeweiligen
Altersgruppen (Frauen) in %.
Quelle: Bureau of Statistics, Office of the Prime Minister, Japan.
Statistical yearbook, Serial editions (Population 15 years of age and over by
marital status, age groups and prefectures).
Die brave Frau
Das Gegenstück zur selbständigen Frau ist die «brave
Frau» nach traditionellen Normen und Wertmaßstäben. Auf den
nächsten Seiten möchte ich einerseits aufzeigen, was es bedeutet,
eine «brave Frau» zu sein. Andererseits möchte ich kurz die
neuen Erwartungen an Liebe und Partnerschaft sowie die Glücksstrategien
der Japanerinnen vorstellen.
Als erstes sei die Meinung zweier Japanerinnen
dokumentiert, die beide das Bild der «braven Frau» ablehnen. Imai
Yasuko, 50, alleinstehend, schrieb, sie habe niemals eine «brave Frau
japanischen Stils» werden wollen. Darum habe sie die Ehe - vor allem eine
arrangierte Heirat - abgelehnt (Brief 20.6.1987). Die andere Frau, jung,
verheiratet, ebenfalls eine Intellektuelle, äußerte in einem
Gespräch, das Ideal der «braven Frau» müsse zerstört
werden. Sie befindet sich mit ihrer Hoffnung, Beruf und Partnerschaft,
Eheglück und Selbständigkeit zu verbinden, in Übereinstimmung
mit einem aktuellen Trend der japanischen Gesellschaft. Die beiden Frauen und
viele andere, die ebenso denken, beweisen aber nicht, daß das
traditionelle Idealbild in Japan nicht mehr vorhanden wäre. Dieses
umfaßt die - von Männern und Frauen getragene - patriarchale
Idealvorstellung, die der Gleichung entspricht: Das Glück der Frau ist das
Glück der Familie.
Das eigene Glück im Glück der anderen zu
finden, bedeutet für Frauen Verzicht auf eigene Wünsche und ein
großes Ausmaß an Opferbereitschaft. (Daß die Gesellschaft
diese Selbstbeherrschung und diesen Altruismus selbstverständlich
akzeptiert, ja verlangt, erscheint mir unmenschlich und eigentlich
unverschämt.) Gratifikation für die Opferbereitschaft ist das Lob
für das Leid durch die, die das Leid verursachen.
Von japanischen
Frauen wird herkömmlicherweise verlangt, daß sie immer eine Rolle
spielen, daß sie diese Rolle völlig verinnerlichen und
womöglich überhaupt nie darauf kommen, wer und wie sie selbst
wirklich sind.
Zwei «psychosoziale» Grundlagen der japanischen
Gesellschaft ermöglichen, daß die gesellschaftlichen Prozesse trotz
dieses hohen Ausmaßes an Verzicht und Verdrängung
verhältnismäßig reibungslos ablaufen. Diese sind: zahlreiche
Möglichkeiten und starker Druck der Umgebung, die eigenen inneren
Wünsche zu sublimieren, sowie hohe Rationalität und ausgeprägter
Pragmatismus in der Lebenseinstellung und Lebensgestaltung.
Yasashii onna und yasashii otoko -
Die zärtliche Frau und der zärtliche Mann
Das Idealbild der «braven Frau» wurde in den vergangenen
45 Jahren durch viele Einflußwellen aus dem Westen überlagert. Die
Vorstellung von Liebesheirat, partnerschaftlicher Ehe und freier
Sexualität ist gemeinsam mit amerikanischen Demokratievorstellungen
eingewandert. Die Frauenbewegung sowie das UNO-Jahrzehnt der Frau haben den
Wünschen nach eigenem statt nach Ersatzglück Rechtfertigungen
geliefert. Die ökonomische Entwicklung hat den Frauen den materiellen
Unterbau für die teilweise Befreiung aus dem Getto des Hausfrauendaseins
und der «braven Frau» -Ideologie gebracht.
Die
individualistischen Glückswünsche haben höhere Erwartungen an
die Männer zur Folge, und da diese, vor allem in der mittleren und
älteren Generation, gar nicht wissen, was die Frauen von ihnen eigentlich
wollen (auch vielen von ihnen ist die Rolle zum Selbst geworden, die Maske in
die Seele gewachsen), ist eine Steigerung der Scheidungsrate die Folge. Eine
zweite Konsequenz ist die Zuwendung der Frauen zu anderen Bezugspersonen
für Vertrauen, Freundschaft und Zuneigung, sei es in Form heimlicher
außerehelicher Beziehungen oder in Form von Freundschaften mit Frauen in
ähnlichen Situationen.
Was außerehelichen Sex anlangt, wird
dessen Verbreitung in sexualwissenschaftlichen Befragungen bestätigt.
5 Es wird von häufigen
außerehelichen Beziehungen auf seiten der Männer wie auch auf seiten
der Frauen gesprochen.
Die vielfältigen Beziehungen der Frauen
untereinander haben die Frauenwissenschaftlerin und Feministin Ueno Chizuko,
die in Japan in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Büchern zum
Frauenthema ein Begriff geworden ist, zur Schöpfung des Wortes
jo-en
(Frauenbindungen) angeregt. Sie spricht auch von einer
«Frauenwelt», die entstanden ist.
6
Die Kinder, die Jahrzehnte hindurch als Partner- und Liebesersatz der
japanischen Frauen galten, scheinen zunehmend verdrängt - oder besser
entlastet - zu werden durch die Erweiterung des Lebenskreises ihrer
Mütter. Ueno Chizuko nennt die Japanerinnen mit der heute häufigen
Kombination von Hausfrauenpflichten, Berufstätigkeit und
Freizeitbetätigungen «hauptberufliche Aktivistinnen» (Ueno
1987, S.141).
Versucht man die drei «Hauptgenerationen» - die
alte, die mittlere und die junge - zu charakterisieren, so könnte man dies
folgendermaßen tun: Die alten Frauen sind noch im traditionellen
Frauenbild der « braven Frau» gefangen. Die mittlere Generation
versucht, diesem Bild nachzukommen und gleichzeitig eigene Wünsche zu
verwirklichen, was ein enormes Ausmaß an Energie erfordert. Die jungen
Frauen schließlich legen ein Verhalten an den Tag, das ältere Frauen
häufig mit Verantwortungslosigkeit, Oberflächlichkeit und Hedonismus
in Zusammenhang bringen. Diese jungen Frauen sind in wirtschaftlich guten
Zeiten aufgewachsen, haben die Signale der Frauenbewegung in
abgeschwächter Form aufgenommen, Selbstbewußtsein durch höhere
Schulbildung erworben und hoffen nun unbefangen auf Glück in Verbindung
mit Partnerschaft. Sie möchten ihr Leben genießen.
In einer
Frauenzeitschrift (SAY, September 1987) wurden 12 junge Männer nach der
idealen Ehepartnerin befragt. Sie wünschten sich eine «Mit
mütterlicher Liebe erfüllte Frau»; sie wünschten sich eine
Frau, die sie als «Nummer eins» anbetet, und sie wünschten
sich eine sanfte, zärtliche
(yasashii) Frau, die zu allem «ja
und Amen» sagt. Wenige Seiten später gibt es unter dem Motto
yasashisa wa ichiban (Sanftheit, Zärtlichkeit ist das Wichtigste)
eine mit Bildern versehene Anweisungsserie für die «Kunst des
fraulichen Ausdrucks.»
7
Dieser Beitrag ist eine detaillierte Lektion für das Benehmen, das nach
außen die Eignung zur traditionellen «braven Frau»
signalisieren soll.
Diese Beiträge könnten auch im Jahr 1990 noch
in einer Zeitschrift für junge Frauen enthalten sein. Sie sind,
unbeabsichtigt, eine detaillierte Anweisung für weibliche Verstellung.
Wenn man beide Artikel zusammenliest, so kann man nicht anders, als für
jene Betroffenen, die das alles ernst nehmen, die Stunde der Wahrheit zu
befürchten. Tatsächlich dürfte es sich aber bei Artikeln dieser
Art eher um Mahnrufe an junge Mädchen handeln, die eben diese
traditionelle Weiblichkeit vermissen lassen. Wie schaut es nun mit
Vorstellungen über Liebe, Sexualität und Partnerschaft bei der
jüngeren Frauengeneration wirklich aus?
Im Unterschied zu westlichen
Vorstellungen von Eheschließung ließ man in Japan immer sehr offen
rationelle Momente spielen. Ein Zitat aus dem Jahr 1919 könnte das
belegen; es soll der Kuriosität halber angeführt werden:
|
«Und in keinem Land der Welt wird weniger geflirtet, als
gerade in Japan, geschehen die Dinge, die auf diesem Wege geschehen
müssen, zielbewußter, selbstverständlicher und unromantischer
als hier... Es gibt wirklich in diesem Sinne nichts Nüchterneres,
Verständigeres und Solideres als die Bewohner dieses Landes, die in recht
hartem Kampf um das bißchen Leben und um eine leidliche Machtstellung der
nationalen Gemeinschaft ihr Augenmerk auf ganz andere Werte ihres
gesellschaftlichen und persönlichen Lebens zu richten haben als auf die
möglichst reizvolle Einkleidung der sympathischen Vorgänge, die zum
Anfang eines neuen Menschen führen» (Hagemann 1919, S. 277f.). |
|
Heute weicht die traditionelle arrangierte Heirat
(miai-kekkon) zunehmend der Liebesheirat
(renai-kekkon) 8 (Tabelle 3). Während 1949 das
Verhältnis «arrangierte Heirat» zu «Liebesheirat»
65 zu 22 Prozent war, hatte es sich bis 1983 praktisch umgekehrt und
ungefähr bei diesem Stand eingependelt. Dabei ist zu bemerken, daß
das deutsche Wort «Liebe» und das japanische Wort
renai sich
inhaltlich nicht völlig decken.
Tabelle 3: Änderung im Prozentsatz von
arrangierter Ehe (miai-kekkon) und Liebesheirat (renai-kekkon).
Quelle: Yuzawa Yasuhiko: Zusetsu-gendai Nihon no kazoku mondai (Diagramme
zu Problemen der japanischen Familie der Gegenwart). NHK books 531, 1987,
S.55.
Japanische Mädchen suchen, auch im Falle der
«Liebesheirat», den geeigneten Partner zielbewußt,
während europäische Mädchen auf den Märchenprinzen warten
sollen. Unsere Ehe basiert auf romantischen Vorstellungen zweier
füreinander bestimmter Menschen, die vom Schicksal zusammengeführt
werden und nicht durch andere ersetzbar sind. Natürlich sind die
wirklichen Motivationen und Handlungen auch bei uns zum Teil rational
geprägt, doch dies wird nicht offen zur Schau gestellt, und es
verstößt gegen das althergebrachte Prinzip, das Auffinden des
Schicksalspartners mit nach außen erkennbarem eigenem Zutun oder gar mit
Hilfe anderer zu beschleunigen. Man denke nur an den üblen Beigeschmack
des Wortes «Kuppelei», das man für derartige Vorgänge
verwendet.
Liebe, die bei uns die Ehepaare verbindet, soll etwas rein
Gefühlsmäßiges sein, frei von Nützlichkeitserwägungen
und, wie es bei uns heißt, frei von « berechnenden »
Momenten. Beruf oder Geld darf in die Partnerwahl nicht hereinspielen; sie soll
nur dem Willen der beiden von Liebe Erfaßten entsprechen, und niemand hat
sich einzumischen. Dieser Irrationalität und Übererwartung an die
geheimnisvolle Macht der Liebe haben wir einen Teil unserer europäischen
hohen Scheidungsraten zu verdanken.
In Japan waren die Frauen lange Zeit
frei von derartigen romantischen Erwägungen bei der Partnerwahl, sie wurde
ja sowieso meist nicht von ihnen selbst getroffen. «Berechnende»,
also von Vernunft geleitete Überlegungen, spielen bei den
institutionalisierten Formen der Eheschließung auch im heutigen Japan
noch eine sehr große Rolle, und dies wird von der sozialen Umwelt
unterstützt. In bezug auf die Ehe und den Ehepartner kann man in Japan im
Vergleich zu uns von einer geringeren emotionalen Abhängigkeit der Frauen
ausgehen.
Keineswegs gab und gibt es in Japan etwa keine
Liebesgefühle. Sie haben sich in der Literatur, im Theater und in
Denkmälern für Doppelselbstmord aus Liebe manifestiert und
gehörten zu den Empfindungen, die eine « brave Frau »
verdrängen mußte. Den westlichen Import des Traumes von der
großen Liebe in Ehevorstellungen einzubauen ist natürlich sehr
verlockend. Schließlich sehnt sich jeder Mensch nach der vollkommenen
Beziehung, die auf Vertrauen, Zuneigung und Zärtlichkeit beruht, und eine
solche macht ohne Zweifel glücklicher als die Ehe, wie sie der Japanologe
Robert Smith für Japan als charakteristisch beschreibt:
|
«Ehe ist daher eine Partnerschaft, die zwei Menschen
zusammenbringt, welche über verschiedenartige Fähigkeiten
verfügen, die für die Schaffung und Erhaltung einer Familieneinheit
als notwendig angesehen werden.» Smith spricht von einer
«komplementären Abhängigkeit» der Ehepartner (Smith 1987,
S. 3). |
|
Yasashisa, ein japanisches Wort, das viele Bedeutungen
umfaßt, aber in diesem Zusammenhang vor allem «
Zärtlichkeit» meint, ist eine Eigenschaft oder ein Verhalten, das
immer mehr Frauen auch von ihren Partnern erwarten und nicht nur, wie im vorhin
zitierten Artikel, die jungen Männer von ihren zukünftigen Frauen.
Frauen erhoffen sich auch mehr Partnerschaft, was konkret größere
Teilnahme an den Agenden des Haushalts und der Kindererziehung heißt.
Junge Männer scheinen tatsächlich mehr als ältere Japaner
über alle diese Dinge nachzudenken, doch wahrscheinlich handelt es sich,
wie bei uns, um einen relativ kleinen Kreis, der sich darüber den Kopf
zerbricht. Außerdem wird die Praxis der ehelichen Partnerschaft dann von
den Anforderungen des Berufslebens geprägt. Dieses läßt in
Japan wenig Spielraum für Hilfe und Zuwendung in der Ehe, sofern der
Wunsch nach einer größeren oder auch nur kleineren Karriere des
Ehemannes besteht.
Fremdheit zwischen Mann und Frau
Es ist nicht möglich, über Liebe, Sexualität und
Partnerschaft zu sprechen, ohne Männer mit einzubeziehen. In Japan ist die
Kluft zwischen Männern und Frauen groß, was viel mit
konfuzianistischem Gedankengut, das früher die Erziehung leitete, zu tun
hat. Die Fremdheit der Geschlechter, die frühzeitige Isolation von Frauen
und Männern, ist ein patriarchales Herrschaftsmittel, denn, wer sich nicht
kennt, glaubt an die Bilder, die andere machen, und Bündnisse werden
erschwert. Zur Fremdheit zwischen Mann und Frau führt bereits die
Erziehung der Kinder, die trotz Koedukation noch immer weitgehend
geschlechtsspezifisch ist. Freunde sind fast immer gleichgeschlechtlich. Die
Fremdheit zieht sich durch alle Bereiche, vom äußeren, dem Beruf,
beginnend bis zum intimsten, der Sexualität. Der
More-Report legt
darüber ebenfalls Zeugnis ab. Auf die Frage-es wurden nur Frauen befragt:
«Was machen Sie, wenn Sie sexuelles Verlangen spüren? », stand
an erster Stelle der Antworten: «Ich masturbiere.» 34 Prozent der
Befragten sagten, sie machten beim Geschlechtsverkehr von sich aus nichts, um
zu größerem Genuß zu kommen, und 68 Prozent gaben an,
daß sie immer wieder einen Orgasmus vortäuschten (Horiuchi 1983, S.
393, 385 u. 516).
Die Fremdheit der Geschlechter hängt ursächlich
mit der hohen Verdrängung der Sexualität bzw. jedes erotischen
Momentes zusammen. Erotik wird von der sozialen Norm praktisch nur für
Männer und für diese auch nur in den dafür eingerichteten
Bereichen des sozialen Lebens gestattet. Das sind vor allem die
Vergnügungsviertel mit einer spezifisch weiblichen Berufsschicht, die
Kellnerinnen, Barhostessen etc. bis zu verschiedenen Repräsentantinnen der
Geheimprostitution umfaßt. Den Mangel an erotischer Anregung im Alltag
mildern aber z. B. auch Porno-Videos in Hotels, wo sarari-man (Angestellte) auf
Dienstreisen übernachten.
Belegt die wissenschaftliche Literatur schon
ein außerordentliches Maß sexueller Gehemmtheit bei Frauen, so
scheint diese bei den Männern noch größer zu sein (Coleman
1983, S. 167). Das Tabu, das auf allem Sexuellen, aber auch auf Erotik liegt,
hat seinen Grund im traditionellen Familiensystem. Sexualität als ein Teil
von Liebe hatte unterdrückt zu werden, sonst wäre nicht nur das
gesamte Familien-, sondern auch das gesamte Gesellschaftssystem ins Wanken
geraten. Die Auswirkungen dieses Tabus in bezug auf Sexualität und die
offizielle Lustfeindlichkeit wirken bis heute nach und bis in die Praxis der
Empfängnisverhütung hinein.
Der Bereich der Sexualität ist
zu vielschichtig, um ihn in diesem Rahmen ausloten zu können; es soll nur
noch erwähnt werden, daß die Angst vor Schwangerschaft bei Frauen
die Lust auf und am Sex empfindlich stört (Horiuchi 1983, S. 726-730).
Außerdem haben Männer und Frauen in bezug auf Sexualität
völlig verschiedene Erwartungshaltungen: Frauen meinen, daß sie sich
auf Sex zur Reproduktion beschränken müssen, Männer hingegen
gestatten sich Sex auch als Vergnügen (Coleman 1983, S. 173 -179).
Sexualität als Kommunikationsmittel zwischen Frauen und Männern,
als Ausdruck gegenseitiger Zuneigung und Liebe, ist zwar immer mehr ein
Wunschtraum der Frauen, aber noch lange nicht Realität in der Mehrheit der
Beziehungen.
Das Private ist politisch, hieß ein Slogan, den sich die
westliche Frauenbewegung zu eigen machte. In diesem Sinn stellen auch
Sexualität, Liebe, Partnerschaft, Überbrückung der Isolation der
Geschlechter und die strukturelle Veränderung der Gesellschaft ein Ganzes
dar. Erst Veränderungen aller Teilbereiche ermöglichen eine
Veränderung des Gesamten. Derzeit ist nicht abzusehen, ob die bisher in
der japanischen Gesellschaft feststellbaren Erschütterungen und
Veränderungen das gesamte System in Frage stellen können.
Erwachsen werden
Um es noch einmal, sehr generalisierend, zusammenzufassen: Japanische
Frauen träumen vom Glück in Partnerschaft, Ehe, Familie mit Kindern
und, zunehmend, auch verbunden mit Berufstätigkeit. Mit der erlernten
Rationalität suchen sie den Lebenspartner und wiegen sich in der Hoffnung,
dabei auf den zärtlichen Liebhaber und hilfsbereiten Ehemann zu
stoßen. Diese Hoffnung geht selten auf. Der Traum vom Glück - wobei
ich Glück hier als Freiheit definiere, das Leben weitgehend nach eigenen
Wünschen zu gestalten - wird zur Suche nach Zufriedenheit in Jobs und
Freundschaften, zur alltäglichen Anpassung der ehemaligen
Wunschträume und tiefinnersten Sehnsüchte an die gegenwärtigen
Notwendigkeiten.
Maa maa shiawase desu (sinngemäß: «Na
ja - ich bin recht zufrieden» ) antworteten 80 Prozent der Frauen bei
einer Befragung im Januar 1986 (Smith 1987, S. 25). Da schwingt viel
Ernüchterung, viel Resignation mit. Ist aber Resignation, oder anders
gesagt, Ergebenheit in die Fremdbestimmung des eigenen Lebens, unausweichlich?
Japanische Gesprächspartnerinnen meinten, japanische Frauen könnten
erst wirklich glücklich sein, wenn sie bereit sind,
«erwachsen» zu werden. Erwachsen zu werden heißt, nicht mehr
zu hoffen, durch Heirat das Glück aus den Händen eines Ehepartners
geschenkt zu bekommen, sondern bereit zu sein, sich das Glück selbst zu
schaffen (was keineswegs bedeutet, ledig bleiben zu müssen). Die
traditionell geringere gefühlsmäßige Abhängigkeit von den
männlichen Partnern und die pragmatische Einstellung zur Ehe und zum Leben
insgesamt könnten sich bei dieser Entwicklung als Vorteil erweisen.
«Die vordringlichste Aufgabe für die japanischen Frauen von
heute», sagt eine Japanerin, die schon jahrelang in der Eheberatung
arbeitet, «ist es, das Traumbild von der Familie über Bord zu
werfen.
» 9
Anmerkungen |
1. |
1945: Kriegsende, amerikanische Besatzung, in der Folge neue
rechtliche Situation für Japanerinnen, u. a. durch die neue Verfassung von
1947, die soziale, religiöse und auch geschlechtliche Benachteiligungen
abschafft. |
2. |
Tawara 1987. |
3. |
Vgl. Foreign Press Center 1987, S.16: Heirat und Scheidung: Nach
einem Höhepunkt 1971 fiel die japanische Heiratsrate 1985 zu einem nie
dagewesenen Tiefpunkt von 6,1 Heiraten auf 1000 Personen. Während
derselben Zeit stieg das Durchschnittsalter der Erstheirat ständig an, und
zwar von 26,8 bei Männern und 24,2 bei Frauen im Jahr 1971 auf 28,2 bei
Männern und 25,5 bei Frauen im Jahr 1985. Aufgrund einer wachsenden
Anzahl von Frauen mit höherer Bildung und Berufstätigkeit steigt der
Prozentsatz von Frauen in ihren zwanziger und frühen dreißiger
Jahren, die nicht verheiratet sind, und dieser Trend stimuliert das Absinken
der Heiratsrate. Japans Scheidungsrate stieg zwischen 1963 und 1983
ständig an, bis sie mit 1,51 Personen auf 1000 ihren Höhepunkt fand.
Seit 1983 sinkt sie und erreichte im Jahr 1985 1,39 auf 1000 Personen.
Besonders bemerkenswert war in den vergangenen Jahren die Zunahme der
Scheidungen unter Menschen mittleren Alters und bei älteren Paaren, die 10
Jahre und mehr miteinander gelebt hatten (Übersetzung aus dem Englischen,
R. L.). |
4. |
Vgl. Kato, o. J., S. 99. |
5. |
Vgl. Horiuchi 1983, 5.738 und Tanaka 1985, 5.164-186. |
6. |
Vgl.Asahi shinbun (Asahi Zeitung) vom 23.4.1987, S. 13 und
Ueno 1987, S.130-142. |
7. |
SAY, 1.9.1987, S. 33-37 und S. 55-59. |
8. |
Vgl. Yuzawa 1987, S. 54-63. |
9. |
Brief Imai Yasuko vom 6.11.1987. Vgl. Linhart, Ruth: Auch kein
Kind zu haben ist eine Form von Glück. Japan: Frauen ohne Kinder (Linhart
[b] 1988). |
(Der Artikel ist ein Beitrag zum Buch "Nippons neue Frauen",
erschienen 1990. Ins Internet gestellt im November 2008).