Ruth Linhart | Japanologie | Biographieprojekt Imai Yasuko


Wie auf einem anderen Stern
Japanisch- österreichische Beziehungen am Beispiel von Imai Yasuko


Yasuko Imai in Wien 1976
"Kultiviert wie kein anderes Land auf der Welt!" So erinnert sich Imai Yasuko, 75, an Österreich und Wien, wo sie 1976 bis 1977 ein Jahr verbrachte. Ihr Kontakt mit Österreich ist ein Stück Mikrogeschichte in den 140jährigen japanisch-österreichischen Beziehungen.

Das Jahr in Wien
"Als ich ein Jahr in Wien lebte, merkte ich bestürzt die Tatsache, dass die Stellung der Frauen hier so anders war als ob ich auf einem anderen Stern wohnte, und mir wurde die Frauenproblematik bewusst", schreibt die Japanerin Imai Yasuko1) in ihrem 2003 erschienenen Buch "Vor dem Tagesanbruch der Frauen - Sammlung meiner feministischen Texte". "Ein größerer Schock als alles" war aber, als sie begriff, wie die japanischen Frauen in Österreich beurteilt wurden. "Hier denkt man, dass sie weltweit besonders rückständig sind, ein besonders niedriges Bewusstsein haben und besonders bemitleidenswert sind." Und sie beschloss, nach ihrer Rückkehr alles in ihrer Macht zu tun, um die japanischen Frauen auf ihre Lage aufmerksam zu machen und diese zu verbessern.
Die Literaturprofessorin Imai Yasuko, die 1976 mit 43 Jahren zum ersten Mal ins Ausland fuhr, um sich auf die Spuren des japanischen Dichters Saitô Mokichi zu heften, der in den Zwanzigerjahren in Wien studiert hatte, wunderte sich aber nicht nur über die Stellung der Frauen. Sie war überwältigt von der Schönheit der Stadt. "Prachtvoll, großartig, glänzend, luxuriös, elegant, ruhig", sprudelt es noch dreißig Jahre später aus ihr hervor. "Beeindruckt hat mich die Höhe der Kultur, das wunderbare Opernhaus, die Museen, reich an Kunstwerken, die Freiheit und die Fähigkeit zum Lebensgenuss. Die Menschen dieser Stadt verstehen es, Freizeit angenehm zu verbringen".

Begeisterung für den Westen
Imai Yasuko wurde 1933 geboren und wuchs in einer patriarchalischen Familie in Sapporo im Norden Japans auf. Ihr Vater war Amtstierarzt und stammte aus einer Großgrundbesitzerfamilie in Mitteljapan, die Vorfahren ihrer Mutter waren Samurai in Kyûshû.
Als 1869 die Kaiserreiche Japan und Österreich-Ungarn diplomatische Beziehungen aufnahmen, hatte ihr Urgroßvater Zusho Hirotake gerade in Mittel- und Nordjapan auf der Seite des Meiji Tennô gegen die Anhänger des Shogunats gekämpft. Nach dem Sieg der kaiserlichen Truppen wurde er Verantwortlicher für die Kolonisation Hokkaidôs und Gouverneur von Sapporo. Später wurde er geadelt und gehörte als Abgeordneter dem Oberhaus des japanischen Parlaments an. Die Anfänge der Begeisterung für den Westen in der Familie legte Yasukos Adoptivgroßvater, ein Eisenbahningenieur, der 1922 und 1923 das Eisenbahnwesen in Amerika und Europa studierte. Dieser Großvater sprach oft davon, wie anders die Welt "drüben" sei, und dass die Lebensweise der japanischen Frauen verändert werden müsse. Er schickte Yasukos Mutter in eine französische Missionsschule in Tôkyô. Ihre Hochschätzung der westlichen Kultur übertrug sie auf Yasuko. Österreich erwarb sich in Japan im Laufe der Jahrzehnte den Ruf als Musikland und Land des Wintersports. So lernte auch Yasuko es kennen. Im schneereichen Hokkaidô fuhr man mit der Schule zum Schilaufen in die Berge. Und Yasukos Mutter ließ die Tochter schon vor dem Eintritt in die Schule Klavier lernen. Yasuko wollte bis zum Alter von 17 Jahren Pianistin werden und widmete viel Zeit österreichischen Komponisten, vor allem natürlich Mozart.
Vielleicht schon in die Wiege gelegt war ihr Neugier und das Bedürfnis, offen ihre Meinung auszusprechen, was beides dem Ideal der japanischen Frau krass widersprach. Obwohl sie, oder vielleicht weil sie von ihren Eltern, besonders vom Vater, sehr restriktiv auf die übliche Frauenrolle als zukünftige Braut getrimmt wurde, fasste sie bereits in der Grundschule einen damals revolutionären Entschluss: berufstätig zu werden und nicht zu heiraten. Die historische Entwicklung unterstützte sie bei ihrem Vorhaben. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die amerikanische Besatzung öffneten mit der Gleichberechtigung für Frauen die Tore zur höheren Bildung. Imai Yasuko studierte an der Hokkaidô-Universität japanische Literatur und wurde Wissenschaftlerin. Von1970 an bis zur Emeritierung unterrichtete sie an einer zweijährigen Universität für Mädchen in der mitteljapanischen Stadt Hamamatsu.
Während ihrer Studienzeit engagierte sie sich für Frauenfragen und bei der linken Studentenbewegung. Als jedoch 1960 der Kampf der Studenten gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages zwischen Japan und Amerika zusammenbrach, wandte sie sich von jeglicher politischen Betätigung ab und der Erforschung des japanischen Dichters Ishikawa Takuboku zu, über den sie einige renommierte Werke verfasste.

Starke Frauen, freundliche Männer
"Bevor ich nach Wien kam, hatte ich kein Interesse an der Frauenbewegung", erinnert sich Imai Yasuko. In Wien wohnte sie in bei einer jungen geschiedenen Mutter in Untermiete. Diese Frau war in der sich damals formierenden Szene der autonomen Frauenbewegung aktiv. Imai Yasuko erlebte den Schock ihres Lebens, als sie sah, wie heftig Frauen und Männer miteinander diskutierten und wie kämpferisch die Frauen Forderungen an die Gesellschaft stellten. "Diese Frauen sahen nicht wie in Japan Heirat und Kinderkriegen als ihre Pflicht an. Sobald sie erwachsen waren, zogen sie aus der Wohnung ihrer Eltern aus, und wie sie lebten, war jeder freigestellt", bemerkte sie. Und sie folgerte: "Dass Einschränkung und Abhängigkeit das "Glück der Frau" ist, das kennt man nur in Japan." Verzicht und Resignation als Lebensphilosophie schien ihr die japanischen Frauen zu kennzeichnen. Dem gegenüber war sie überwältigt vom "Selbstausdruck" der Österreicherinnen. Außerdem beobachtete sie, dass "österreichische Männer Frauen hoch schätzen", und Ehepartner sich mit gegenseitigem Respekt behandeln.
Sie selbst, die wegen ihrer Geradlinigkeit und ihres für japanische Frauen ungewöhnlichen Lebensweges immer das Gefühl gehabt hatte, als "komische Außenseiterin" betrachtet zu werden, erkannte "dass nicht ich sonderbar war, sondern die japanische Gesellschaft, und ich war zum ersten Mal in meinem Leben glücklich. Noch glücklicher war ich, als ich meine innerliche Unterdrückung aufgab und ohne Zurückhaltung zu sprechen begann". In Wien kam sie zum Schluss, dass zwar die Haltung der japanischen Männer ein Problem sei, "dass aber die Haltung der japanischen Frauen, die nicht wie die Frauen im Westen dagegen kämpfen, das noch größere Problem ist". Mit dem Vorsatz, "dass ich wie die Frauen in Wien kämpfe und deutlich sage, was es zu sagen gibt", kehrte sie nach Japan zurück.

Zurück ins frauenbewegte Japan
Die weltweite Frauenbewegung und der Feminismus hatten zu diesem Zeitpunkt auch Japan erreicht. 1975 war das Internationale Jahr der Frau, dem die UNO-Dekade der Frau folgte. In Japan wurde auf der Ebene offizieller Politik und Rechtsprechung viel geändert, unter anderem kam es 1986 zu einem Gleichbehandlungsgesetz für Frauen in der Arbeitswelt, dessen jüngste Novelle 2007 in Kraft trat. Daneben bildeten sich in Japan Netzwerke von Frauen, die mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter nicht mehr zufrieden waren, "ihren eigenen Weg" suchten und sich für ein breites Spektrum von Frauenanliegen engagierten.
Imai Yasuko fand also bei ihrer Rückkehr ein für ihre Botschaft aufnahmebereites Publikum. Vorerst stürzte sie sich in das Studium der japanischen Frauengeschichte. An ihrer Universität führte sie das Fach "Joseigaku - Frauenstudien" ein und beeinflusste damit viele Jahrgänge von jungen Japanerinnen, die sie zu einem eigenständigen Leben führen wollte. Als dessen Voraussetzung sah sie die Berufstätigkeit an. (Bald nach ihrer Emeritierung verschwand dieser Gegenstand übrigens wieder aus dem Curriculum). Außerdem gab es in der Präfekturzeitung ab 1979 regelmäßig Buchbesprechungen über Frauenthemen, die sie und eine Freundin sich teilten. Unter dieser Rubrik "Bücher, die ich liebe", erschien zum Beispiel ihre Besprechung der japanischen Übersetzung von Alice Schwarzers "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen".
Das Wichtigste war aber wohl die Gründung der "Hamamatsu fujin konwakai", auch "Feministischer Salon von Hamamatsu", genannt. Die Idee dazu kam von einer Freundin aus der Studienzeit, und Imai Yasuko machte begeistert mit. Diese Frauengruppe bestand aus zirka 50 Frauen um die vierzig, die nach japanischem Muster bei den Kindern zu Hause geblieben waren und nun nach einem Lebensinhalt suchten. Das große Thema für sie war "jiritsu", Autonomie, Unabhängigkeit, und die Titel ihrer Veranstaltungen lauteten etwa "Das Leben nach der Kindererziehung" oder "Werden wir geistig unabhängig, werden wir wirtschaftlich unabhängig!" Die Frauen lehnten es ab, nur die Ehegattin eines Mannes zu sein, sie wollten wieder berufstätig werden. Imai Yasuko unterstützte diese Bestrebungen und wurde zum "geistigen Rückgrat" und zur "Beraterin" der Gruppe.
Im ersten Jahrzehnt nach der Gründung 1979 organisierte der "Feministische Salon von Hamamatsu" vor allem eine Art feministisches Kursprogramm. Um 1990 teilte er sich in verschiedene Gruppen auf. Der "Beratungsraum für Frauen von Hamamatsu" (Hamamatsu josei no tame no kaunseringu rûmu) nahm unter anderem Anregungen von der autonomen Wiener Einrichtung "Frauen beraten Frauen" auf, denn Imai Yasuko vermittelte ihren Freundinnen Besuche bei diversen sozialen Einrichtungen in Wien. Das auf Psychologie und Psychotherapie aufbauende Selbsthilfezentrum existiert auch heute noch. Weiters agierte Imai Yasuko als Repräsentantin einer BürgerInnen-Bewegung gegen die Diskriminierung von Mädchen bei der Aufnahme in Oberschulen der Präfektur Shizuoka. Diese Initiative, gegründet 1989, brachte ihr Anliegen bei den zuständigen Stellen und Schuldirektoren vor, organisierte eine Unterschriftenaktion sowie eine telefonische Beschwerdestelle, arbeitete mit den Medien zusammen und konnte beachtliche Erfolge erringen.
Trotz allem ist Imai Yasuko noch immer nicht ganz zufrieden mit dem Kampfgeist der japanischen Frauen, aber sie teilt die vorherrschende Meinung, "dass sich viel verbessert hat". Mädchen haben in der Bildung aufgeholt, die Zahl der berufstätigen Frauen hat zugenommen, es gibt Frauen in Spitzenpositionen, Männer haben begonnen, sich an der Hausarbeit und Kindererziehung zu beteiligen. "Und Frauen wie ich werden nicht mehr ausgelacht. Ich bin keine komische Person mehr!"

Wien bleibt das Paradies
Wien blieb für sie stets die Traumstadt, das Jahr in Wien das glücklichste ihres Lebens. Hier lernte sie das Gefühl der persönlichen Freiheit kennen, hier war sie von Schönheit und sozialer Sicherheit für Jung und Alt umgeben. Mit dieser idealen Sicht auf unsere Welt ging sie nach Japan zurück. Jetzt lebt sie im Altersheim und hört ab und zu Mozarts Krönungskonzert, dessen zweiten Satz, das Larghetto, sie einst besonders gerne spielte. Wenn nach ihrem Tod Familie und Freunde zusammenkommen, dann wünscht sie sich, dass Wiener Walzer erklingen mögen. Und ein wenig ihrer Asche soll nach Wien geschickt und hier verstreut werden.

Eine ausführliche Biographie über Imai Yasuko und ihre Welt ist in Vorbereitung.
1) Wie in Japan üblich werden die Namen in der Reihenfolge Familienname und Vorname angeführt.

Publiziert in der Festpublikation "Österreichisch-Japanische Begegnungen", 140 Jahre freundschaftliche Beziehungen, S. 175-178, hrsg. vom Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten/Österreichische Botschaft Tokio, 2009
Ruth Linhart | Japanologie | Biographieprojekt Imai Yasuko Email: ruth.linhart(a)chello.at