Was ist "yasashisa"?
Imai: Die japanischen Männer sind sanft, aber sie zeigen
es nach außen nicht, weil es ihnen peinlich ist. Das wird in Japan seit
zirka zehn Jahren behauptet. Typische japanische Männer "alter Art" sind
bis zirka 50 Jahre alt. Die haben von ihren Vätern gelernt, daß
"nicht sanft zu sein" der "Stil des Mannes" ist. Suyama: Was
bedeutet denn diese yasahisa eigentlich, die sich Frauen von Männern
wünschen? Daß er zuhört, wenn sie etwas sagt, daß sein
Herz innig (komayaka) zu ihr hinwandert? Oder heißt das heute eher,
daß Frauen vom Mann die Freiheit haben wollen, das zu tun, was sie
möchten... das zuzulassen, das anzuerkennen, das wäre yasashii.
Imai: Frauen in den Fünfzigern wünschen sich so etwas
vielleicht, weil es das in der eigenen Generation nicht gab. Aber für die
junge Generation ist das möglicherweise schon - eine Voraussetzung
für eine Beziehung? Wünschen sie sich junge Frauen nicht noch mehr an
yasashisa? Meine Neffe hat vor dem ersten Rendezvous seine Schwester bei der
Auswahl des Ortes um Rat gefragt (Lachen). Welcher Ort, welches Restaurant und
im Restaurant welcher Sitz gut wäre! Sein Vater, der zuhörte, sagte:
"So ein Unsinn (kudaranai)!" Meine 18jährige Nichte sagt: "Das ist nur so
bis zur Heirat!" Suyama: Was heißt yasashii wohl
wirklich? Was meinen Sie Frau Uchiyama? Uchiyama: Heißt der Wusch
nach yasashisa nicht, daß man selbst wichtig genommen werden möchte
(daiji ni sareru)? Imai: Vielleicht... will eine Frau wichtig
genommen werden, weil sie sich selbst wichtig nimmt? Suyama: So
weit geht die Selbstbehauptung wohl nicht! In yasashii ist auch "abhängig
sein" enthalten. Die Frau möchte liebevoll behandelt werden, das ist eine
abhängige Position (izontekina tachiba). Uchiyama: Aber ist
das bei den Leuten unter 50 nicht schon selbstverständlich so? Allerdings
gibt es auch Jüngere, die Zärtlichkeit nicht zeigen können.
Imai: Männer, die yasashisa beim Vater nicht gesehen haben,
nicht koedukativ erzogen wurden und auf der Universität und in der Arbeit
auch wieder nur unter Männern sind, kennen diesen Stil überhaupt
nicht. In der Asahi-shinbun (Asahi-Zeitung) habe ich heuer in der
Beratungsspalte folgendes gelesen: Ein 60igjähriger Vater schrieb
über seine 28jährige Tochter. Er ließ sie ein miai machen, das
heißt einen Heiratsanwärter treffen. Sie lehnte den potentiellen
Heiratspartner ab. Der Vater hat das sehr mißbilligt, weil es sich um
eine ziemlich gute Partie handelte. Daraufhin sagte die Tochter: "Nach dem
formellen Teil des miai waren wir zusammen in einem Cafe und er hat Kaffee
bestellt, ohne mich auch nur zu fragen, ob ich überhaupt einen will." Der
Vater wurde sehr zornig, weil sie wegen einer solchen Lapalie einen
ansehnlichen Heiratskandidaten zurückwies. Ich kann diese Tochter gut
verstehen. Uchiyama: In meiner Familie gibt es eine
ähnliche Geschichte. Die Frau und der Mann gingen in ein Restaurant. Er
schaute sich die Speisekarte an und bestellte, ohne sie einen Blick
hineinwerfen zu lassen. Sie hat gesagt, das sei ihr zuwider (iya). Vielleicht
wären diese Männer liebevoll (yasashii), wenn sie gelernt
hätten, wie sie das zeigen können. Das Problem ist wohl, daß
sie keine Übung darin haben, auch an die Partnerin zu denken. Dabei
handelt es sich wahrscheinlich um ein noch tiefer liegendes Problem. Eine
Freundin von mir, zirka 40, ist verheiratet, sie führt eine ganz
gewöhnliche Ehe und sie wollte keineswegs einen besonders liebevollen
Parnter. Er ist der Meinung, alles sei so zu machen, wie er es will, weil er
der Mann ist. Sie hat oft das Gefühl, daß er sie als Mensch nicht
wirklich für voll nimmt. Es ist wohl weniger eine Sache des Alters,
sondern der Fähigkeit, auf den anderen einzugehen. Imai:
Vielleicht dreht es sich darum, anzuerkennen, daß ein anderer Mensch
anders ist als ich selbst bin. Daß die andere Person zwar ebenso ein
Mensch ist, wie ich selbst, aber anders denkt. Suyama: Aber
einen anderen Menschen anerkennen als anderen kann nur, wer selbst
unabhängig ist. Besonders die japanischen Frauen haben keine Übung,
selbst zu wählen und zu entscheiden. Darum halten sie sich bei allem
zurück und folgen dem, was der Mann gewählt hat. Ich frage mich oft,
warum auch Frauen, die arbeiten, keine seelische Unabhängigkeit haben? Das
liegt vielleicht an der Erziehung. Das Problem ist mit "yasashisa ja oder nein"
nicht abgetan. Imai: In der japanischen Gesellschaft ist die
Ansicht "Männer sind so" und "Frauen sind so" (otoko wa kô iu mono
da, onna wa kô iu mono da) sehr fest verwurzelt. Nur von einer Seite aus
kann diese Tradition nicht beseitigt werden.
Telefonische Beratungsgespräche
Die telefonische Beratung dauert 50 Minuten, wird immer am selben
Wochentag zur selben Stunde und von derselben Frau durchgeführt und kann
anonym sein, wenn die Ratsuchende das wünscht.
Mit der Heirat sich selbst aufgeben
Suyama: Zum Beispiel hat in jüngster Zeit eine junge
Frau, 28, bei mir Telefonberatung gemacht hat. Eine Liebesehe. Der Mann ist 30.
Das Paar hat keine Kinder. Der größte Kummer (nayami) dieser Frau
ist, daß sie mit dem Schwiegervater zusammenleben muß. Seit sie
geheiratet hat, arbeitet sie Teilzeit, weil sie sich um den Vater kümmern
muß. Eine japanische Schwiegertochter (yome) muß sich um die
Familie kümmern. Der Vater geht um acht Uhr früh zur Arbeit und kommt
um zirka sechs Uhr abends heim. Der Ehemann geht um 1/2 7 Uhr und kommt gegen
acht Uhr abends zurück. Wenn die Frau heimkommt, kocht sie, der Vater
trinkt Bier und ißt. Das Ehepaar hat zwar im ersten Stock ein gemeinsames
Zimmer, aber dort schlafen sie nur. Sie muß immer unten sein und den
Vater betreuen. Erst wenn der Vater schon mit dem Essen fertig ist, kommt der
Mann zurück. Auch er trinkt Bier, es folgt eine lange Mahlzeit. Sie ist
voll Unzufriedenheit. "Wozu habe ich geheiratet? Kann das so, wie es ist, in
Ordnung sein?" fragt sie. Hauptursache ihres Verzweiflung ist die Tatsache,
daß sie wegen der Heirat auch die Arbeit gewechselt hat. Sie hat ihre
bisherige Karriere völlig aufgegeben und sich dem Leben des Gatten, seinem
Rahmen, angepaßt: "So ist es eben, wenn eine Frau heiratet." Zuerst
dachte sie, das sei nicht zu ändern (tôzen desu) und sie müsse
es aushalten. Aber allmählich hat sich ihr Leiden im Körper
niedergeschlagen. Sie verlor das erste Kind. Seither ist sie nicht mehr
schwanger geworden. Stattdessen ist die Menstruation ausgeblieben. Sie ging zum
Gynäkologen. Der stellte fest, daß ihr organisch nichts fehlte. Ob
sie irgendwelche Sorgen hätte? Auf diese Frage kamen ihr sofort die
Tränen. Danach hat sie im Beratungszimmer angerufen. Als sie das erste
Mal anrief, hat sie die ganze Zeit geweint. Sie hat eigentlich keinen Grund,
über ihre Ehe zu klagen. Sie hat den Menschen geheiratet, den sie lieb hat
und lebt mit ihm zusammen. Aber Heirat bedeutet in der heutigen japanischen
Gesellschaft für eine Frau, ihren Namen aufzugeben (suteru), die Arbeit
aufzugeben und nicht mehr das tun zu können, was sie gerne tun
möchte. Heirat bedeutet für eine Frau, sich vom Morgen bis zum Abend
anpassen zu müssen (ôka suru). Der Mann hatte wahrscheinlich gar
keine Ahnung, wie es ihr ging, denn sein Leben hatte sich nicht im geringsten
geändert. Sie wußte, daß es nicht richtig war, mit ihm nicht
darüber zu sprechen. Einmal, als sie von irgendwo nach Hause gingen, sagte
sie: "Ich möchte nicht zurückgehen!" Darauf sagte der Mann: "Ich
verstehe zwar deine Gefühle, aber wir können den Vater nicht
hinauswerfen." Und so etwas Ähnliches wie: "Es ist auch für mich
schwer." Als sie anrief, habe ich ihr zuerst nur zugehört. Wir im
Beratungszimmer heilen nicht, wir hören nur zu und fragen. Nach dem
fünften Telefongespräch kam die Regel wieder! Allmählich ist es
soweit gekommen, daß sie und der Mann miteinander reden konnten.
Dieser Fall zeigt, wie wichtig es ist, mit dem Partner über die
Probleme zu reden, statt zu glauben, alles aushalten zu müssen. Nach und
nach hat sich auch das Herz dieser Frau beruhigt. Zirka zwei Monate, nachdem
die Regel wieder gekommen war, sprach sie mit dem Mann darüber, daß
sie jetzt wieder ein Kind haben wollte. Die zwei Männer faßten es
als selbstverständlich auf, daß sie bedient wurden, und beachteten
die Frau als Mensch überhaupt nicht. Dieser Fall ist typisch für
die Beantwortung der Frage, welche gesellschaftliche Maschinerie das Leben der
japanischen Frauen beeinflußt. Diese Frau begriff nicht, warum sich durch
die Ehe ihr Leben so sehr veränderte, aber seines überhaupt nicht.
"Warum verändert sich mein Leben, wenn ich mich bemühe, der Rolle
einer guten Schwiegertochter und einer guten Ehefrau zu entsprechen?" Und:
"Warum kann gerade ich mich so wenig mit dieser Änderung abfinden?" Jetzt
hat sie sich selbst kennengelernt. Sie hat sich selbst in ihrer jetzigen
Realität erfassen können. Diese Frau wurde in dem Sinn erzogen,
daß für den Mann und die Eltern zu kochen, Arbeit ist. Mit der
Familie gemeinsam zu essen, ist für diese Frau eine schwere Verpflichtung.
Sie hat das Gefühl, sie dürfe nicht einmal kurz ins Kaffeehaus gehen.
Einmal ging sie mit ihrem Mann zusammen ins Cafe, da las er in den
Zeitschriften, die dort auflagen. Sie hätte am liebsten geweint. Sie
wünschte sich, daß er sich wenigstens jetzt ihr zuwende. Für
ihn war der Kaffeehausbesuch eine Verpflichtung. Für sie war es, weil sie
sonst immer andere bediente, ein Vergnügen. Es kränkte sie, daß
er Comics las. Sie sagte nichts. Aber in ihren Gedanken ging sie bis zur
Scheidung. Sie hatte das Gefühl: "So kann es nicht weitergehen." Bevor ich
fühle: "Ich möchte besser leben", muß ich selbst bemerken: "So
geht es nicht weiter." Jetzt möchte sie als nächstes zu uns kommen
und ein Training für Selbstbehauptungs (jiko-seichô) mitmachen. Sie
hat sich wieder eine ganztägige Arbeit gesucht. Sie sagt, sie wolle eine
Aufgabe, die ihr einen Lebensinhalt bietet. Ich dachte : "Wie schön!"
So eine Entwicklung ist für uns sehr befriedigend.
Als Schwiegertochter Fremde im eigenen Haus
Uchiyama: Ich möchte von einer Frau erzählen, die
mit den Schwiegereltern zusammen lebt. Diese waren früher beide
berufstätig und sind jetzt in Pension. Dafür geht die
Schwiegertochter, die früher zu Hause war, arbeiten. Und das Kind - hat
gestohlen. In einem Geschäft, eine Kleinigkeit. "Warum ist das passiert?"
Deswegen hat diese Frau angerufen. Das Kind lebt mit den Großeltern,
die Mutter geht arbeiten. Der Großvater kann überhaupt nichts,
schafft nur an. Die Großmutter, die immer neben dem Großvater
hergelebt hat, möchte noch viele Dinge unternehmen und geht auch oft fort,
zum Beispiel in einen Kurs für Ikebana (Blumen stecken). Offensichtlich
wird das Enkelkind nicht zufriedengestellt. Die Liebe der Großmutter
unterscheidet sich außerdem völlig von der Liebe der Mutter. Auf die
Frage, warum es gestohlen habe, antwortete das Kind: "Weil es am Sonntag, wenn
die Mutter nicht da ist, so einsam ist." "Warum sind Sie am Sonntag nicht
daheim?" frage ich. Daraufhin sie: "Die Großeltern sind seit zehn Jahren
in Pension. Ich habe in diesem Haus keinen Platz." Sie hat zwar ein eigenes
Zimmer, aber was denken die Eltern, wenn sie sich in ihr Zimmer
zurückzieht! Darum geht sie lieber fort und trifft sich mit Freundinnen.
Daß diese Frau im eigenen Haus für sich "keinen Platz" findet, kommt
in der Einsamkeit des Kindes zum Ausdruck. Diese Frau lebt immer im
Bewußtsein, "Schwiegertochter" zu sein und ist nicht zur "Mutter"
geworden. Eigentlich hat sie drei Rollen: Schwiegertochter, Mutter, Ehefrau.
Aber sie kann diese drei Rollen nicht koordinieren. Sie ist von der einen Rolle
der Schwiegertochter völlig ergriffen. Sie hat aufgehört, ihr Kind zu
sehen, aufgehört zu sehen, was das Kind braucht und sie hat die liebevolle
Zuwendung (yasashisa) zum Kind eingestellt. Sie schaut das Gesicht des Kindes
nicht mehr an. Sie sieht nur die Schwiegereltern. Die Beziehung zum Kind ist
unterbrochen. F.: Was ist mit dem Vater des Kindes? Die
Beziehung zum Vater scheint die allerdünnste zu sein. Es ist anscheinend
nicht so eine Beziehung, in der Frau und Mann gemeinsam auf die Eltern oder das
Kind eingehen. In dieser Familie sind die Beziehungen abgeschnitten. Niemand
scheint Vertrauen zum anderen zu haben. Jeder hat das Gefühl, der andere
habe ihn verraten (uragiru). Auch der Ehemann dürfte unglücklich
sein. Er ist ungenügend als Vater und als Partner. Das Eheleben ist
seicht. Die Ursache dieser Leiden liegt im "falschen Lernen" (machigatta
gakushû). Und im "Mangel an Lernen" (manabi no fusoku). Das Lernen ist in
Beziehungen sehr wichtig: Diese Frau verharrt in der Rolle der "Braut" Auch
wenn sie sich ändern möchte - sie weiß nicht, wie. Der Fall ist
noch nicht gelöst. Die "Schwiegertochter - Problematik" steht im
Vordergrund.
Geheimnisse vor dem Mann
Suyama: Bei Frau-Mann-Beziehungen, die an uns herangetragen
werden, kommt es oft vor, daß die Frau vor dem Mann ein Geheimnis hat.
Zum Beispiel: Eine Frau hatte während des Studiums einen Freund, der sie
stehenließ. Das hat sie dem Ehemann nicht erzählt. Sie macht sich
deswegen Sorgen. Auch die Eltern wissen nichts davon und sie versucht jetzt am
Telefon, das alles einmal deutlich in eigene Worte zu fassen. Es war die erste
Beziehung mit einem Mann, sie wollte ihn heiraten, doch er hat sie aufgegeben,
weil er sich in eine andere Frau verliebte. Sie sträubt sich zu denken,
daß er sie verlassen hat, aber es ist so. Sie hörte damals zu
studieren auf und begann in einer Firma zu arbeiten, dort waren viele
Männer, und sie hatte mit verschiedenen Männern Verhältnisse.
Als ich sie fragte, ob es für sie schlimm war, daß der Mann, mit
dem sie eine so tiefe Beziehung hatte, sie mit einem Brief verlassen hat,
antwortet sie: "Es war scheußlich (iya)". Die Trennung tat weh, aber sie
konnte niemandem etwas sagen. Sondern betonte vor den anderen, daß sie
von selbst gegangen sei. Und trug die wirkliche Geschichte dauernd mit sich
herum. Dann heiratete sie eines Tages per miai einen vermittelten Partner.
Jetzt lebt sie ein ganz normales Frauenleben - aber indem sie sich ständig
selbst belügt. Diese Frau hat nur dreimal angerufen. Aber immerhin hat
sie etwas, das sie sonst niemandem erzählt hat, ausgesprochen und schauen
können, wie es ihr damit geht. Sie sagte, daß sie sich erleichtert
fühlte.
Loslösung von den Kindern
Erstaunlich häufig rufen 40 bis 50jährige Frauen an, die
sich um ihre Kinder Sorgen machen. Diese Frauen haben erwachsene Söhne
oder Töchter, Kinder, die körperlich und in den Augen der Umgebung
erwachsen sind. Trotzdem machen sich die Mütter riesige Sorgen (sugoi
shinpai) um sie. Uchiyama: Die Kinder ihrerseits wenden sich
mit ihren Problemen an die Eltern, zum Beispiel wegen Scheidung. Sie fragen die
Mutter: "Was soll ich tun?" Die Mutter kann nicht sagen: "Das geht mich nichts
an." Suyama: Oder eine Frau ruft an, weil der Sohn eine
ältere Frau liebt. "Wird unser Sohn nicht hineingelegt (damasarete iru)?"
Diese Eltern können den Sohn nicht so sein lassen, wie er denkt, daß
es für ihn paßt. Das ist das Problem: Diese Frauen können nicht
aushalten, daß die Kinder sich von ihnen entfernen. Auch die Kinder
kommen nicht von den Eltern los, weil die Mutter an den Kindern festklebt. Das
Problem liegt in der Länge der Mutterrolle: Bis in die Ewigkeit - oder
zumindest viele Jahrzehnte. Bisher hat es viele
Schwiegertochter-Schwiegermutter-Probleme gegeben, weil sie zusammengelebt
haben. Jetzt leben sie zunehmend getrennt. Das Problem hat sich verlagert. Im
Zentrum steht heute das Eltern-Kind-Problem. Suyama: Es ist
nicht so, daß sich die Mütter Sorgen machen, weil ihre Kinder
sexuell zu freizügig leben und abgleiten könnten. Der Kernpunkt ist
die Loslösung von den Kindern. Imai: Rufen die Mütter
hauptsächlich wegen den Söhnen an? Suyama: Das kann
man nicht sagen. Es geht generell um die Trennung der Mütter von den
Kindern, Söhnen und Töchtern. Zum Beispiel ist die Tochter, die sie
doch groß gezogen hat, nach Tôkyô gegangen. Jetzt sorgt sich
die Mutter, weil die Tochter einen arbeitslosen Mann liebt. Es ist aber nicht
die unterschiedliche Auffassung bezüglich Sexualität, sondern die
Beziehung der Mutter zur Tochter, die hinter den Sorgen steht. Imai:
Anscheinend kann diese Frau ohne ihr Kind nicht sein?
Suyama: Sie hat das Gefühl, sie kann nicht mehr leben,
wenn ihr Kind weg ist. Sie lebte bisher innerhalb der Mutterrrolle. Sie kann
nicht akzeptieren, daß sich diese ändert, bzw., daß sie zu
Ende ist. Sie kann das Kind nicht loslassen. Uchiyama: Die
Frauen suchen nach Zärtlichkeit (yasashisa). Sie erwarten sie aber nicht
von ihren Männern. Auch solche Zusammenhänge spielen mit.
Suyama: Die Mutterrolle nimmt lange Zeit in Anspruch. Wenn sie
zu Ende geht, müssen sich die Frauen den Männern zuwenden. Davor
haben etliche vielleicht Angst. Sie müßten das Objekt ihrer
Zuwendung verlegen. Aber vielleicht kann die Beziehung zwischen Mann und Frau
oft gar nicht verbessert werden, weil keine da ist. Anscheinend ist es für
alle befreiend, auszusprechen, was verdeckt im Herzen war und oft wandelt sich
das befreiende Gefühl dann in Handlung. Ob es sich um Mann, Kinder oder
Liebhaber dreht, ich glaube, es ist auch für die dritten von Nutzen. Wenn
ich den Kummer in Worte wandle, gewinne ich ein bißchen Distanz. Etliche
Frauen kommen im Anschluß an die Telefonberatung in unsere Kurse. So eine
Wandlung in Handlung erleben wir oft. Es ist natürlich nicht so,
daß es immer gute Lösungen gibt. Aber wir glauben, daß die
Fähigkeit zur Lösung eines Problems in den Betroffenen ist. Wenn wir
positiv fragen, entdeckt die Betroffene für sich selbst
Lösungsmöglichkeiten. Wer allerdings sofort eine Antwort will, wird
enttäuscht. Das Grundlegende für uns ist die Überzeugung,
daß in jedem Menschen eine ihm eigene Kraft ist, und daß sie oder
er mit dieser Kraft eine Lösung finden kann. Fast alle wollen sich tief im
Herzen mit jemandem gefühlsmäßig verbinden. Alle sind einsam.
Und verdrängen diese Einsamkeit. In unserer Beratung ist es oft so,
daß Frauen seit der Mittelschule mit niemandem mehr über sich
gesprochen haben, und sie reden sehr viel. Langsam entdecken sie ihre
Wünsche, zum Beispiel, daß ihr Mann sich ihnen zuwendet. Es
erleichtert, solche Bedürfnisse zu entdecken. Sie können sich dann um
ihre Erfüllung bemühen. Ich glaube, daß wir auch selbst sehr
viel daraus lernen. Der Mut wächst, der anderen wirklich zuzuhören
und zu fragen.
Liebe und Ehe
Bei uns rufen viel mehr ältere Frauen an. Frauen, die sagen, es sei
unerträglich mit dem Mann zusammenzuleben, der jetzt in Pension ist. Das
ist das Häufigste. Eine solche Frau zum Beispiel ist krank. Ihr Mann hat
sich ihr Vermögen angeeignet. Sie sagt, sie sei eine gute Mutter gewesen,
der Mann behandle sie schlecht. Sie möchte sich scheiden lassen. In diesem
Fall sage ich ihr, daß sie sehr schlecht dran wäre, wenn sie sich
scheiden ließe. Junge Frauen rufen ebenfalls wegen Eheproblemen an. Bei
Unverheirateten melden sich eher die Eltern. Unlängst rief eine
23jährige Lehrerin an und klagte über ihren Beruf. Es wurde eine lang
andauernde Beratung. Sie hat dann geheiratet. F.: Was ist mit
Liebeskummer und anderen Liebesproblemen? Suyama: Wie ist
das mit Liebeskummer junger Leute? Uchiyama: Solche Sachen
kommen anscheinend nicht zu uns. Frauen in mittleren Jahren rufen
verhältnismäßig oft an, wegen Seitensprüngen.
Freundinnen
Suyama: Junge Leute dürften Freundinnen haben, bei
denen sie sich aussprechen. In der Lebensphase der Liebe haben die Frauen
Freundinnen. Aber wenn sie heiraten, verlieren sie anscheinend die Freundinnen.
Das ist arg. Sie müssen den Freundinnen zeigen, daß sie in einer
guten Familie leben und gute Frauen sind. Uchiyama: Es gibt schon
Freundinnen. Aber nicht Freundinnen für so tiefe Probleme, wie sie an uns
herangetragen werden. Imai: Aber die Liebesprobleme in der
Jugend sind doch auch sehr persönlich. Uchiyama: Wenn man
jung ist, ist man offener. Suyama: Warum verschwinden die
Freundinnen? Ich konnte meine Freundschaften nach der Heirat nicht fortsetzen.
Die Freudinnen hörten auf, zu mir zu kommen. Ich wohnte mit meiner
Schwiegermutter zusammen. Es war ihnen unangenehm, sie begrüßen zu
müssen. Zu meiner Zeit war das so. Jetzt ist das anders, denke ich. Es ist
nicht so, daß die Freundschaften enden. Es hört sich auf, daß
wir miteinander frei verkehren können. Es gibt Begrenzungen.
Uchiyama: Bei mir ist das so: Den Freundinnen aus der Zeit vor
der Ehe schreibe ich nur noch. Durch die Kinder habe ich neue Freundinnen
gefunden. Natürlich kann ich mich nicht mit allen über alles beraten,
aber mit verschiedenen über Verschiedenes. Heutzutage kann man auch
telefonieren. Und die Frauen leben nicht mehr mit der Schwiegermutter zusammen.
Imai: Über Liebe können Frauen mit Freundinnen reden,
aber nicht über die Schwiegermutter? Uchiyama: Die
"Würde des Hauses" nicht beschädigen - das ist auch zu
berücksichtigen. Das ist auch ein Druck. Frauen haben oft das Gefühl,
wenn sie etwas Schlechtes über ihren Mann sagen, sind sie eine "böse
Frau". Suyama: Zornig sein darf eine Frau nicht. Das ist unsere Kultur.
Unsere Erziehung. Imai: Weil sie gute Frauen sein wollen,
zerstören sie ihr Ich.
Das Beratungszimmer
Suyama: Die Erziehung zur Unabhängigkeit des Ich, in
Richtung einer Bewußtseinsveränderung, das ist wichtig. Bei uns gibt
es ein Training für die Entwicklung des Selbst. Zwei Semester. Die
Schulung für unsere Beraterinnen dauert drei Jahre. Wir haben jetzt um 36
000 Yen zwei Zimmer gemietet. Eine gewöhnliche kleine Wohnung. Dort machen
wir die persönliche und die telefonische Beratung. Es ist ruhig dort und
ein bißchen von der Atmosphäre eines Zufluchtstempels
(kakekomidera). Wir hätten Sie dorthin einladen sollen...
Das Frauenberatungszimmer von Hamamatsu wurde am 10. 10. 1982
eröffnet. Seit 1983 betreuen die Beraterinnen auch ein "Beratungsfenster"
in einer lokalen Zeitung. In der japanischen Zeitschrift "Gendai no esupuri"
(Lesprit daujourdhui) 1990/9 mit dem Schwerpunktthema "Feministische Therapie"
stellte Frau Suyama die Zielsetzung der Frauenberatung von Hamamatsu so vor:
1979 richteten 18 Frauen mit dem Ziel der Unabhängigkeit von Frauen
und der Teilnahme an der Gesellschaft das Büro des "Feministischen Salon"
(Hamamatsu fujin konwakai) ein und eröffneten gleichzeitig ein
"Training-Center" zur Bewußtseinsveränderung (ishiki-henkaku) und
zur Entfaltung der Fähigkeiten von Frauen. Die Ausbildung für das
Beratungszimmer war einer der angebotenen Kurse. Zehn Frauen machten diese
Ausbildung in Theorie und Praxis sowie eine Lehranalyse und begannen drei Jahre
später mit ihrer Arbeit. Das Beratungszimmer ist ein Ort, an dem
"jede Frau, befreit von einer vorgefertigten rahmenähnlichen Rolle, nach
der für sie natürlichsten und gemäßesten Lebensweise
suchen kann", außerdem ein Ort, "an dem diese Lebensweise durch Studium
weiter entwickelt werden kann". Und außerdem ist es ein Ort,"an dem
Frauen einander fördern". Vom Oktober 1982 bis März 1989 wurden
1690 Telefonberatungen, 123 vorgemerkte telefonische Beratungsgespräche,
314 Beratungen im Beratungszimmer (50 Minuten, 1000 Yen, 5 -15 mal) und
schriftliche Beratungen durchgeführt. Beratung suchen vor allem haupt- und
nebenberufliche Hausfrauen. Altersmäßig sind die 30-50jährigen
am stärksten vertreten, aber immer mehr 50-70jährige Frauen wenden
sich seit 1987 an das "Zimmer". Die häufigsten Beratungsinhalte sind
Eheprobleme, Probleme mit sich selbst (jibun no mondai), zwischenmenschliche
Beziehungen und Eltern-Kind-Probleme, weniger häufig Erziehungsprobleme
und Schwiegertochter-Schwiegermutter-Probleme. Zwischen 1987 und 1989 nahmen
die Eheprobleme, die Probleme mit sich selbst und die Erziehungsprobleme als
Beratungsinhalte ab und die Eltern-Kind-Probleme zu. Frau Suyama, die im
Sommer 1990 Wien besucht hat, berichtet, daß die Mutter-Kind-Probleme,
die eng mit dem eigenen Rollenverständnis und der eigenen Identität
zusammenhängen, weiter im Ansteigen sind.
Vgl. Gendai no esupuri 1990/9:127 ff
) bonus siehe Glossar
* Auszug aus:
Ruth Linhart, Onna da
kara- Weil ich eine Frau bin Liebe, Ehe und Sexualität in Japan,
Reihe Frauenforschung, Band 16, Wiener Frauenverlag (jetzt Milena-Verlag), Euro
21, 50, Wien, 1991, 181-194
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