Ruth Linhart | Japanologie | Biographieprojekt Imai Yasuko | Onna da kara

Beratungszimmer für Frauen, Kazuko Suyama, 53 u. Harumi Uchiyama, 40, Hamamatsu, 5.8.1988

Die falschen Rollen zu gut gelernt

Fukuko I.
Frau Suyama und Frau Uchiyama kommen mit ziemlicher Verspätung in das Restaurant meines Hotels in Hamamatsu. Frau Suyama ist "chief councelor" des Beratungszimmers (Hamamatsu josei no tame no kaunseringu-rûmu). Dort werden telefonische, schriftliche und direkte Beratungen angeboten. Frau Suyama ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder, einen Sohn und zwei Töchter, alle im Heiratsalter und alle nicht verheiratet. Eine Tochter lebt in Tôkyô, die beiden anderen arbeiten in Hamamatsu und wohnen bei den Eltern. Frau Suyama war viele Jahre sengyô-shufu (professionelle Hausfrau), arbeitete dann, bis alle drei Kinder endlich das Studium beendet hatten, Teilzeit. Sie war 1979 bei den Gründerinnen der "Hamamatsu fujin konwakai" (Feministischer Salon, wörtlich "Frauengruppe für vertrauliche Gespräche von Hamamatsu") dabei, aus dem 1982 das "Beratungszimmer" hervorging. Ich kenne Frau Suyama seit dem Sommer 1983, als ich mit meinem damals neunjährigen Sohn Felix für die Frauenzeitschrift, für die ich arbeitete, die "Hamamatsu fujin konwakai" besuchte. Frau Uchiyama treffe ich zum ersten Mal. Sie hat zwei Kinder, 14 und 10 Jahre alt und die psychotherapeutische Einschulung, die vom Beratungs-Zimmer organisiert wird, hinter sich. An dem Gespräch nimmt auch Yasuko Imai (55) teil.
Zuerst ist der Begriff "yasashisa" Gesprächsthema, ein Begriff, der mit einem Wort nicht übersetzbar ist, sondern je nach inhaltlichem Zusammenhang als "Zärtlichkeit", "Sanftmut", "Einfühlsamkeit", "Gutmütigkeit", "Freundlichkeit" etc. übertragen werden kann. Das dazu gehörende Eigenschaftswort heißt "yasashii". Der Begriff ruft im gegenwärtigen Sprachgebrauch ausschließlich positive Assoziationen hervor. Dann schildern Frau Suyama und Frau Uchiyama typische Fälle der Telefonberatung und nennen soziale und psychische Ursachen der Probleme, mit denen sie konfrontiert werden.

Was ist "yasashisa"?

Imai:
Die japanischen Männer sind sanft, aber sie zeigen es nach außen nicht, weil es ihnen peinlich ist. Das wird in Japan seit zirka zehn Jahren behauptet. Typische japanische Männer "alter Art" sind bis zirka 50 Jahre alt. Die haben von ihren Vätern gelernt, daß "nicht sanft zu sein" der "Stil des Mannes" ist.
Suyama:
Was bedeutet denn diese yasahisa eigentlich, die sich Frauen von Männern wünschen? Daß er zuhört, wenn sie etwas sagt, daß sein Herz innig (komayaka) zu ihr hinwandert? Oder heißt das heute eher, daß Frauen vom Mann die Freiheit haben wollen, das zu tun, was sie möchten... das zuzulassen, das anzuerkennen, das wäre yasashii.
Imai:
Frauen in den Fünfzigern wünschen sich so etwas vielleicht, weil es das in der eigenen Generation nicht gab. Aber für die junge Generation ist das möglicherweise schon - eine Voraussetzung für eine Beziehung? Wünschen sie sich junge Frauen nicht noch mehr an yasashisa? Meine Neffe hat vor dem ersten Rendezvous seine Schwester bei der Auswahl des Ortes um Rat gefragt (Lachen). Welcher Ort, welches Restaurant und im Restaurant welcher Sitz gut wäre! Sein Vater, der zuhörte, sagte: "So ein Unsinn (kudaranai)!" Meine 18jährige Nichte sagt: "Das ist nur so bis zur Heirat!"
Suyama:
Was heißt yasashii wohl wirklich? Was meinen Sie Frau Uchiyama?
Uchiyama:
Heißt der Wusch nach yasashisa nicht, daß man selbst wichtig genommen werden möchte (daiji ni sareru)?
Imai:
Vielleicht... will eine Frau wichtig genommen werden, weil sie sich selbst wichtig nimmt?
Suyama:
So weit geht die Selbstbehauptung wohl nicht! In yasashii ist auch "abhängig sein" enthalten. Die Frau möchte liebevoll behandelt werden, das ist eine abhängige Position (izontekina tachiba).
Uchiyama:
Aber ist das bei den Leuten unter 50 nicht schon selbstverständlich so? Allerdings gibt es auch Jüngere, die Zärtlichkeit nicht zeigen können.
Imai:
Männer, die yasashisa beim Vater nicht gesehen haben, nicht koedukativ erzogen wurden und auf der Universität und in der Arbeit auch wieder nur unter Männern sind, kennen diesen Stil überhaupt nicht. In der Asahi-shinbun (Asahi-Zeitung) habe ich heuer in der Beratungsspalte folgendes gelesen: Ein 60igjähriger Vater schrieb über seine 28jährige Tochter. Er ließ sie ein miai machen, das heißt einen Heiratsanwärter treffen. Sie lehnte den potentiellen Heiratspartner ab. Der Vater hat das sehr mißbilligt, weil es sich um eine ziemlich gute Partie handelte. Daraufhin sagte die Tochter: "Nach dem formellen Teil des miai waren wir zusammen in einem Cafe und er hat Kaffee bestellt, ohne mich auch nur zu fragen, ob ich überhaupt einen will." Der Vater wurde sehr zornig, weil sie wegen einer solchen Lapalie einen ansehnlichen Heiratskandidaten zurückwies. Ich kann diese Tochter gut verstehen.
Uchiyama:
In meiner Familie gibt es eine ähnliche Geschichte. Die Frau und der Mann gingen in ein Restaurant. Er schaute sich die Speisekarte an und bestellte, ohne sie einen Blick hineinwerfen zu lassen. Sie hat gesagt, das sei ihr zuwider (iya). Vielleicht wären diese Männer liebevoll (yasashii), wenn sie gelernt hätten, wie sie das zeigen können. Das Problem ist wohl, daß sie keine Übung darin haben, auch an die Partnerin zu denken. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um ein noch tiefer liegendes Problem. Eine Freundin von mir, zirka 40, ist verheiratet, sie führt eine ganz gewöhnliche Ehe und sie wollte keineswegs einen besonders liebevollen Parnter. Er ist der Meinung, alles sei so zu machen, wie er es will, weil er der Mann ist. Sie hat oft das Gefühl, daß er sie als Mensch nicht wirklich für voll nimmt. Es ist wohl weniger eine Sache des Alters, sondern der Fähigkeit, auf den anderen einzugehen.
Imai:
Vielleicht dreht es sich darum, anzuerkennen, daß ein anderer Mensch anders ist als ich selbst bin. Daß die andere Person zwar ebenso ein Mensch ist, wie ich selbst, aber anders denkt.
Suyama:
Aber einen anderen Menschen anerkennen als anderen kann nur, wer selbst unabhängig ist. Besonders die japanischen Frauen haben keine Übung, selbst zu wählen und zu entscheiden. Darum halten sie sich bei allem zurück und folgen dem, was der Mann gewählt hat. Ich frage mich oft, warum auch Frauen, die arbeiten, keine seelische Unabhängigkeit haben? Das liegt vielleicht an der Erziehung. Das Problem ist mit "yasashisa ja oder nein" nicht abgetan.
Imai:
In der japanischen Gesellschaft ist die Ansicht "Männer sind so" und "Frauen sind so" (otoko wa kô iu mono da, onna wa kô iu mono da) sehr fest verwurzelt. Nur von einer Seite aus kann diese Tradition nicht beseitigt werden.

Telefonische Beratungsgespräche

Die telefonische Beratung dauert 50 Minuten, wird immer am selben Wochentag zur selben Stunde und von derselben Frau durchgeführt und kann anonym sein, wenn die Ratsuchende das wünscht.

Mit der Heirat sich selbst aufgeben

Suyama:
Zum Beispiel hat in jüngster Zeit eine junge Frau, 28, bei mir Telefonberatung gemacht hat. Eine Liebesehe. Der Mann ist 30. Das Paar hat keine Kinder. Der größte Kummer (nayami) dieser Frau ist, daß sie mit dem Schwiegervater zusammenleben muß. Seit sie geheiratet hat, arbeitet sie Teilzeit, weil sie sich um den Vater kümmern muß. Eine japanische Schwiegertochter (yome) muß sich um die Familie kümmern. Der Vater geht um acht Uhr früh zur Arbeit und kommt um zirka sechs Uhr abends heim. Der Ehemann geht um 1/2 7 Uhr und kommt gegen acht Uhr abends zurück. Wenn die Frau heimkommt, kocht sie, der Vater trinkt Bier und ißt. Das Ehepaar hat zwar im ersten Stock ein gemeinsames Zimmer, aber dort schlafen sie nur. Sie muß immer unten sein und den Vater betreuen. Erst wenn der Vater schon mit dem Essen fertig ist, kommt der Mann zurück. Auch er trinkt Bier, es folgt eine lange Mahlzeit. Sie ist voll Unzufriedenheit. "Wozu habe ich geheiratet? Kann das so, wie es ist, in Ordnung sein?" fragt sie.
Hauptursache ihres Verzweiflung ist die Tatsache, daß sie wegen der Heirat auch die Arbeit gewechselt hat. Sie hat ihre bisherige Karriere völlig aufgegeben und sich dem Leben des Gatten, seinem Rahmen, angepaßt: "So ist es eben, wenn eine Frau heiratet." Zuerst dachte sie, das sei nicht zu ändern (tôzen desu) und sie müsse es aushalten. Aber allmählich hat sich ihr Leiden im Körper niedergeschlagen. Sie verlor das erste Kind. Seither ist sie nicht mehr schwanger geworden. Stattdessen ist die Menstruation ausgeblieben. Sie ging zum Gynäkologen. Der stellte fest, daß ihr organisch nichts fehlte. Ob sie irgendwelche Sorgen hätte? Auf diese Frage kamen ihr sofort die Tränen. Danach hat sie im Beratungszimmer angerufen.
Als sie das erste Mal anrief, hat sie die ganze Zeit geweint. Sie hat eigentlich keinen Grund, über ihre Ehe zu klagen. Sie hat den Menschen geheiratet, den sie lieb hat und lebt mit ihm zusammen. Aber Heirat bedeutet in der heutigen japanischen Gesellschaft für eine Frau, ihren Namen aufzugeben (suteru), die Arbeit aufzugeben und nicht mehr das tun zu können, was sie gerne tun möchte. Heirat bedeutet für eine Frau, sich vom Morgen bis zum Abend anpassen zu müssen (ôka suru).
Der Mann hatte wahrscheinlich gar keine Ahnung, wie es ihr ging, denn sein Leben hatte sich nicht im geringsten geändert. Sie wußte, daß es nicht richtig war, mit ihm nicht darüber zu sprechen. Einmal, als sie von irgendwo nach Hause gingen, sagte sie: "Ich möchte nicht zurückgehen!" Darauf sagte der Mann: "Ich verstehe zwar deine Gefühle, aber wir können den Vater nicht hinauswerfen." Und so etwas Ähnliches wie: "Es ist auch für mich schwer."
Als sie anrief, habe ich ihr zuerst nur zugehört. Wir im Beratungszimmer heilen nicht, wir hören nur zu und fragen. Nach dem fünften Telefongespräch kam die Regel wieder! Allmählich ist es soweit gekommen, daß sie und der Mann miteinander reden konnten.
Dieser Fall zeigt, wie wichtig es ist, mit dem Partner über die Probleme zu reden, statt zu glauben, alles aushalten zu müssen. Nach und nach hat sich auch das Herz dieser Frau beruhigt. Zirka zwei Monate, nachdem die Regel wieder gekommen war, sprach sie mit dem Mann darüber, daß sie jetzt wieder ein Kind haben wollte. Die zwei Männer faßten es als selbstverständlich auf, daß sie bedient wurden, und beachteten die Frau als Mensch überhaupt nicht.
Dieser Fall ist typisch für die Beantwortung der Frage, welche gesellschaftliche Maschinerie das Leben der japanischen Frauen beeinflußt. Diese Frau begriff nicht, warum sich durch die Ehe ihr Leben so sehr veränderte, aber seines überhaupt nicht. "Warum verändert sich mein Leben, wenn ich mich bemühe, der Rolle einer guten Schwiegertochter und einer guten Ehefrau zu entsprechen?" Und: "Warum kann gerade ich mich so wenig mit dieser Änderung abfinden?" Jetzt hat sie sich selbst kennengelernt. Sie hat sich selbst in ihrer jetzigen Realität erfassen können.
Diese Frau wurde in dem Sinn erzogen, daß für den Mann und die Eltern zu kochen, Arbeit ist. Mit der Familie gemeinsam zu essen, ist für diese Frau eine schwere Verpflichtung. Sie hat das Gefühl, sie dürfe nicht einmal kurz ins Kaffeehaus gehen. Einmal ging sie mit ihrem Mann zusammen ins Cafe, da las er in den Zeitschriften, die dort auflagen. Sie hätte am liebsten geweint. Sie wünschte sich, daß er sich wenigstens jetzt ihr zuwende. Für ihn war der Kaffeehausbesuch eine Verpflichtung. Für sie war es, weil sie sonst immer andere bediente, ein Vergnügen. Es kränkte sie, daß er Comics las. Sie sagte nichts. Aber in ihren Gedanken ging sie bis zur Scheidung. Sie hatte das Gefühl: "So kann es nicht weitergehen." Bevor ich fühle: "Ich möchte besser leben", muß ich selbst bemerken: "So geht es nicht weiter." Jetzt möchte sie als nächstes zu uns kommen und ein Training für Selbstbehauptungs (jiko-seichô) mitmachen. Sie hat sich wieder eine ganztägige Arbeit gesucht. Sie sagt, sie wolle eine Aufgabe, die ihr einen Lebensinhalt bietet.
Ich dachte : "Wie schön!" So eine Entwicklung ist für uns sehr befriedigend.

Als Schwiegertochter Fremde im eigenen Haus

Uchiyama:
Ich möchte von einer Frau erzählen, die mit den Schwiegereltern zusammen lebt. Diese waren früher beide berufstätig und sind jetzt in Pension. Dafür geht die Schwiegertochter, die früher zu Hause war, arbeiten. Und das Kind - hat gestohlen. In einem Geschäft, eine Kleinigkeit. "Warum ist das passiert?" Deswegen hat diese Frau angerufen.
Das Kind lebt mit den Großeltern, die Mutter geht arbeiten. Der Großvater kann überhaupt nichts, schafft nur an. Die Großmutter, die immer neben dem Großvater hergelebt hat, möchte noch viele Dinge unternehmen und geht auch oft fort, zum Beispiel in einen Kurs für Ikebana (Blumen stecken). Offensichtlich wird das Enkelkind nicht zufriedengestellt. Die Liebe der Großmutter unterscheidet sich außerdem völlig von der Liebe der Mutter. Auf die Frage, warum es gestohlen habe, antwortete das Kind: "Weil es am Sonntag, wenn die Mutter nicht da ist, so einsam ist." "Warum sind Sie am Sonntag nicht daheim?" frage ich. Daraufhin sie: "Die Großeltern sind seit zehn Jahren in Pension. Ich habe in diesem Haus keinen Platz." Sie hat zwar ein eigenes Zimmer, aber was denken die Eltern, wenn sie sich in ihr Zimmer zurückzieht! Darum geht sie lieber fort und trifft sich mit Freundinnen. Daß diese Frau im eigenen Haus für sich "keinen Platz" findet, kommt in der Einsamkeit des Kindes zum Ausdruck.
Diese Frau lebt immer im Bewußtsein, "Schwiegertochter" zu sein und ist nicht zur "Mutter" geworden. Eigentlich hat sie drei Rollen: Schwiegertochter, Mutter, Ehefrau. Aber sie kann diese drei Rollen nicht koordinieren. Sie ist von der einen Rolle der Schwiegertochter völlig ergriffen. Sie hat aufgehört, ihr Kind zu sehen, aufgehört zu sehen, was das Kind braucht und sie hat die liebevolle Zuwendung (yasashisa) zum Kind eingestellt. Sie schaut das Gesicht des Kindes nicht mehr an. Sie sieht nur die Schwiegereltern. Die Beziehung zum Kind ist unterbrochen.
F.: Was ist mit dem Vater des Kindes?
Die Beziehung zum Vater scheint die allerdünnste zu sein. Es ist anscheinend nicht so eine Beziehung, in der Frau und Mann gemeinsam auf die Eltern oder das Kind eingehen. In dieser Familie sind die Beziehungen abgeschnitten. Niemand scheint Vertrauen zum anderen zu haben. Jeder hat das Gefühl, der andere habe ihn verraten (uragiru). Auch der Ehemann dürfte unglücklich sein. Er ist ungenügend als Vater und als Partner. Das Eheleben ist seicht.
Die Ursache dieser Leiden liegt im "falschen Lernen" (machigatta gakushû). Und im "Mangel an Lernen" (manabi no fusoku). Das Lernen ist in Beziehungen sehr wichtig: Diese Frau verharrt in der Rolle der "Braut" Auch wenn sie sich ändern möchte - sie weiß nicht, wie. Der Fall ist noch nicht gelöst. Die "Schwiegertochter - Problematik" steht im Vordergrund.

Geheimnisse vor dem Mann

Suyama:
Bei Frau-Mann-Beziehungen, die an uns herangetragen werden, kommt es oft vor, daß die Frau vor dem Mann ein Geheimnis hat. Zum Beispiel: Eine Frau hatte während des Studiums einen Freund, der sie stehenließ. Das hat sie dem Ehemann nicht erzählt. Sie macht sich deswegen Sorgen. Auch die Eltern wissen nichts davon und sie versucht jetzt am Telefon, das alles einmal deutlich in eigene Worte zu fassen. Es war die erste Beziehung mit einem Mann, sie wollte ihn heiraten, doch er hat sie aufgegeben, weil er sich in eine andere Frau verliebte. Sie sträubt sich zu denken, daß er sie verlassen hat, aber es ist so. Sie hörte damals zu studieren auf und begann in einer Firma zu arbeiten, dort waren viele Männer, und sie hatte mit verschiedenen Männern Verhältnisse.
Als ich sie fragte, ob es für sie schlimm war, daß der Mann, mit dem sie eine so tiefe Beziehung hatte, sie mit einem Brief verlassen hat, antwortet sie: "Es war scheußlich (iya)". Die Trennung tat weh, aber sie konnte niemandem etwas sagen. Sondern betonte vor den anderen, daß sie von selbst gegangen sei. Und trug die wirkliche Geschichte dauernd mit sich herum. Dann heiratete sie eines Tages per miai einen vermittelten Partner. Jetzt lebt sie ein ganz normales Frauenleben - aber indem sie sich ständig selbst belügt.
Diese Frau hat nur dreimal angerufen. Aber immerhin hat sie etwas, das sie sonst niemandem erzählt hat, ausgesprochen und schauen können, wie es ihr damit geht. Sie sagte, daß sie sich erleichtert fühlte.

Loslösung von den Kindern

Erstaunlich häufig rufen 40 bis 50jährige Frauen an, die sich um ihre Kinder Sorgen machen. Diese Frauen haben erwachsene Söhne oder Töchter, Kinder, die körperlich und in den Augen der Umgebung erwachsen sind. Trotzdem machen sich die Mütter riesige Sorgen (sugoi shinpai) um sie.
Uchiyama:
Die Kinder ihrerseits wenden sich mit ihren Problemen an die Eltern, zum Beispiel wegen Scheidung. Sie fragen die Mutter: "Was soll ich tun?" Die Mutter kann nicht sagen: "Das geht mich nichts an."
Suyama:
Oder eine Frau ruft an, weil der Sohn eine ältere Frau liebt. "Wird unser Sohn nicht hineingelegt (damasarete iru)?" Diese Eltern können den Sohn nicht so sein lassen, wie er denkt, daß es für ihn paßt. Das ist das Problem: Diese Frauen können nicht aushalten, daß die Kinder sich von ihnen entfernen. Auch die Kinder kommen nicht von den Eltern los, weil die Mutter an den Kindern festklebt. Das Problem liegt in der Länge der Mutterrolle: Bis in die Ewigkeit - oder zumindest viele Jahrzehnte.
Bisher hat es viele Schwiegertochter-Schwiegermutter-Probleme gegeben, weil sie zusammengelebt haben. Jetzt leben sie zunehmend getrennt. Das Problem hat sich verlagert. Im Zentrum steht heute das Eltern-Kind-Problem.
Suyama:
Es ist nicht so, daß sich die Mütter Sorgen machen, weil ihre Kinder sexuell zu freizügig leben und abgleiten könnten. Der Kernpunkt ist die Loslösung von den Kindern.
Imai:
Rufen die Mütter hauptsächlich wegen den Söhnen an?
Suyama:
Das kann man nicht sagen. Es geht generell um die Trennung der Mütter von den Kindern, Söhnen und Töchtern. Zum Beispiel ist die Tochter, die sie doch groß gezogen hat, nach Tôkyô gegangen. Jetzt sorgt sich die Mutter, weil die Tochter einen arbeitslosen Mann liebt. Es ist aber nicht die unterschiedliche Auffassung bezüglich Sexualität, sondern die Beziehung der Mutter zur Tochter, die hinter den Sorgen steht.
Imai:
Anscheinend kann diese Frau ohne ihr Kind nicht sein?
Suyama:
Sie hat das Gefühl, sie kann nicht mehr leben, wenn ihr Kind weg ist. Sie lebte bisher innerhalb der Mutterrrolle. Sie kann nicht akzeptieren, daß sich diese ändert, bzw., daß sie zu Ende ist. Sie kann das Kind nicht loslassen.
Uchiyama:
Die Frauen suchen nach Zärtlichkeit (yasashisa). Sie erwarten sie aber nicht von ihren Männern. Auch solche Zusammenhänge spielen mit.
Suyama:
Die Mutterrolle nimmt lange Zeit in Anspruch. Wenn sie zu Ende geht, müssen sich die Frauen den Männern zuwenden. Davor haben etliche vielleicht Angst. Sie müßten das Objekt ihrer Zuwendung verlegen. Aber vielleicht kann die Beziehung zwischen Mann und Frau oft gar nicht verbessert werden, weil keine da ist. Anscheinend ist es für alle befreiend, auszusprechen, was verdeckt im Herzen war und oft wandelt sich das befreiende Gefühl dann in Handlung. Ob es sich um Mann, Kinder oder Liebhaber dreht, ich glaube, es ist auch für die dritten von Nutzen. Wenn ich den Kummer in Worte wandle, gewinne ich ein bißchen Distanz. Etliche Frauen kommen im Anschluß an die Telefonberatung in unsere Kurse. So eine Wandlung in Handlung erleben wir oft.
Es ist natürlich nicht so, daß es immer gute Lösungen gibt. Aber wir glauben, daß die Fähigkeit zur Lösung eines Problems in den Betroffenen ist. Wenn wir positiv fragen, entdeckt die Betroffene für sich selbst Lösungsmöglichkeiten. Wer allerdings sofort eine Antwort will, wird enttäuscht. Das Grundlegende für uns ist die Überzeugung, daß in jedem Menschen eine ihm eigene Kraft ist, und daß sie oder er mit dieser Kraft eine Lösung finden kann. Fast alle wollen sich tief im Herzen mit jemandem gefühlsmäßig verbinden. Alle sind einsam. Und verdrängen diese Einsamkeit.
In unserer Beratung ist es oft so, daß Frauen seit der Mittelschule mit niemandem mehr über sich gesprochen haben, und sie reden sehr viel. Langsam entdecken sie ihre Wünsche, zum Beispiel, daß ihr Mann sich ihnen zuwendet. Es erleichtert, solche Bedürfnisse zu entdecken. Sie können sich dann um ihre Erfüllung bemühen. Ich glaube, daß wir auch selbst sehr viel daraus lernen. Der Mut wächst, der anderen wirklich zuzuhören und zu fragen.

Liebe und Ehe

Bei uns rufen viel mehr ältere Frauen an. Frauen, die sagen, es sei unerträglich mit dem Mann zusammenzuleben, der jetzt in Pension ist. Das ist das Häufigste. Eine solche Frau zum Beispiel ist krank. Ihr Mann hat sich ihr Vermögen angeeignet. Sie sagt, sie sei eine gute Mutter gewesen, der Mann behandle sie schlecht. Sie möchte sich scheiden lassen. In diesem Fall sage ich ihr, daß sie sehr schlecht dran wäre, wenn sie sich scheiden ließe. Junge Frauen rufen ebenfalls wegen Eheproblemen an. Bei Unverheirateten melden sich eher die Eltern. Unlängst rief eine 23jährige Lehrerin an und klagte über ihren Beruf. Es wurde eine lang andauernde Beratung. Sie hat dann geheiratet.
F.: Was ist mit Liebeskummer und anderen Liebesproblemen?
Suyama:
Wie ist das mit Liebeskummer junger Leute?
Uchiyama:
Solche Sachen kommen anscheinend nicht zu uns. Frauen in mittleren Jahren rufen verhältnismäßig oft an, wegen Seitensprüngen.

Freundinnen

Suyama:
Junge Leute dürften Freundinnen haben, bei denen sie sich aussprechen. In der Lebensphase der Liebe haben die Frauen Freundinnen. Aber wenn sie heiraten, verlieren sie anscheinend die Freundinnen. Das ist arg. Sie müssen den Freundinnen zeigen, daß sie in einer guten Familie leben und gute Frauen sind.
Uchiyama:
Es gibt schon Freundinnen. Aber nicht Freundinnen für so tiefe Probleme, wie sie an uns herangetragen werden.
Imai:
Aber die Liebesprobleme in der Jugend sind doch auch sehr persönlich.
Uchiyama:
Wenn man jung ist, ist man offener.
Suyama:
Warum verschwinden die Freundinnen? Ich konnte meine Freundschaften nach der Heirat nicht fortsetzen. Die Freudinnen hörten auf, zu mir zu kommen. Ich wohnte mit meiner Schwiegermutter zusammen. Es war ihnen unangenehm, sie begrüßen zu müssen. Zu meiner Zeit war das so. Jetzt ist das anders, denke ich. Es ist nicht so, daß die Freundschaften enden. Es hört sich auf, daß wir miteinander frei verkehren können. Es gibt Begrenzungen.
Uchiyama:
Bei mir ist das so: Den Freundinnen aus der Zeit vor der Ehe schreibe ich nur noch. Durch die Kinder habe ich neue Freundinnen gefunden. Natürlich kann ich mich nicht mit allen über alles beraten, aber mit verschiedenen über Verschiedenes. Heutzutage kann man auch telefonieren. Und die Frauen leben nicht mehr mit der Schwiegermutter zusammen.
Imai:
Über Liebe können Frauen mit Freundinnen reden, aber nicht über die Schwiegermutter?
Uchiyama:
Die "Würde des Hauses" nicht beschädigen - das ist auch zu berücksichtigen. Das ist auch ein Druck. Frauen haben oft das Gefühl, wenn sie etwas Schlechtes über ihren Mann sagen, sind sie eine "böse Frau".
Suyama: Zornig sein darf eine Frau nicht. Das ist unsere Kultur. Unsere Erziehung.
Imai:
Weil sie gute Frauen sein wollen, zerstören sie ihr Ich.

Das Beratungszimmer

Suyama:
Die Erziehung zur Unabhängigkeit des Ich, in Richtung einer Bewußtseinsveränderung, das ist wichtig. Bei uns gibt es ein Training für die Entwicklung des Selbst. Zwei Semester. Die Schulung für unsere Beraterinnen dauert drei Jahre. Wir haben jetzt um 36 000 Yen zwei Zimmer gemietet. Eine gewöhnliche kleine Wohnung. Dort machen wir die persönliche und die telefonische Beratung. Es ist ruhig dort und ein bißchen von der Atmosphäre eines Zufluchtstempels (kakekomidera). Wir hätten Sie dorthin einladen sollen...

Das Frauenberatungszimmer von Hamamatsu wurde am 10. 10. 1982 eröffnet. Seit 1983 betreuen die Beraterinnen auch ein "Beratungsfenster" in einer lokalen Zeitung. In der japanischen Zeitschrift "Gendai no esupuri" (Lesprit daujourdhui) 1990/9 mit dem Schwerpunktthema "Feministische Therapie" stellte Frau Suyama die Zielsetzung der Frauenberatung von Hamamatsu so vor:
1979 richteten 18 Frauen mit dem Ziel der Unabhängigkeit von Frauen und der Teilnahme an der Gesellschaft das Büro des "Feministischen Salon" (Hamamatsu fujin konwakai) ein und eröffneten gleichzeitig ein "Training-Center" zur Bewußtseinsveränderung (ishiki-henkaku) und zur Entfaltung der Fähigkeiten von Frauen. Die Ausbildung für das Beratungszimmer war einer der angebotenen Kurse. Zehn Frauen machten diese Ausbildung in Theorie und Praxis sowie eine Lehranalyse und begannen drei Jahre später mit ihrer Arbeit. Das Beratungszimmer ist ein Ort, an dem "jede Frau, befreit von einer vorgefertigten rahmenähnlichen Rolle, nach der für sie natürlichsten und gemäßesten Lebensweise suchen kann", außerdem ein Ort, "an dem diese Lebensweise durch Studium weiter entwickelt werden kann". Und außerdem ist es ein Ort,"an dem Frauen einander fördern".
Vom Oktober 1982 bis März 1989 wurden 1690 Telefonberatungen, 123 vorgemerkte telefonische Beratungsgespräche, 314 Beratungen im Beratungszimmer (50 Minuten, 1000 Yen, 5 -15 mal) und schriftliche Beratungen durchgeführt. Beratung suchen vor allem haupt- und nebenberufliche Hausfrauen. Altersmäßig sind die 30-50jährigen am stärksten vertreten, aber immer mehr 50-70jährige Frauen wenden sich seit 1987 an das "Zimmer". Die häufigsten Beratungsinhalte sind Eheprobleme, Probleme mit sich selbst (jibun no mondai), zwischenmenschliche Beziehungen und Eltern-Kind-Probleme, weniger häufig Erziehungsprobleme und Schwiegertochter-Schwiegermutter-Probleme. Zwischen 1987 und 1989 nahmen die Eheprobleme, die Probleme mit sich selbst und die Erziehungsprobleme als Beratungsinhalte ab und die Eltern-Kind-Probleme zu.
Frau Suyama, die im Sommer 1990 Wien besucht hat, berichtet, daß die Mutter-Kind-Probleme, die eng mit dem eigenen Rollenverständnis und der eigenen Identität zusammenhängen, weiter im Ansteigen sind.


Vgl. Gendai no esupuri 1990/9:127 ff

) bonus siehe Glossar

* Auszug aus: Ruth Linhart, Onna da kara- Weil ich eine Frau bin
Liebe, Ehe und Sexualität in Japan, Reihe Frauenforschung, Band 16, Wiener Frauenverlag (jetzt Milena-Verlag), Euro 21, 50
, Wien, 1991, 181-194


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